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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Frankreich nicht zum zweiten Mal vorsichtige Zurückhaltung entgegenstellen
dürfen, sondern in solchem Fall die Führung französischer Empfindlichkeit
übernehmen und dem verletzten Stolz Frankreichs Genugthuung suchen. Das
ist in Deutschland allgemeine Annahme, wir wissen ziemlich genau, wie wir
mit ihm daran sind. Er kann uns kein Freund sein, aber er ist ein wohl¬
bekannter Nachbar, mit dessen Haushalt, stillen Gedanken und Interessen wir
einigermaßen vertraut sind, und es ist im Ganzen ein sicheres Verhältniß.
Darum wünschen wir aufrichtig, daß die große Abstimmung ihm in Wahr¬
heit zum Heile sei. Um so mehr, da die nächste Zukunft ein großes gemein¬
sames Interesse zu schaffen droht, das Interesse der civilisirten Staatsordnung
gegen den unfehlbaren Papst.

Die Antwort des Cardinal Antonelli auf die stillen Bedenken, welche
Graf Daru über die politischen Consequenzen der päpstlichen Unfehlbarkeit
ausgesprochen hatte, ist ein weitläufiges Actenstück und erweist die alte
Kunst des Vaticans, Thatsachen umzubiegen. Hauptsachen zu verschweigen
und mit tugendhafter Energie zu beweisen, was Niemand angezweifelt hat.
Jedoch in gewöhnliche Sprache übersetzt, gleicht sie genau der wohlbekannten
Antwort, welche der Vorstand einer altgläubigen Judenschule dem Minister
gab, als dieser das Unstatthafte des jüdischen Fluchgebets gegen Anders¬
gläubige vorstellte, "wir haben doch geflucht Z800 Jahre und es hat Ihnen
nichts geschadet." -- Den altgläubigen Juden ist das Anathemasingen polizei¬
lich verboten worden, obgleich sie den Vorzug hatten, diese Technik 1000 Jahre
länger zu üben als die alte Kirche der Christen.

Unsere lieben Landsleute, welche mit Pietät an den Ueberlieferungen der
katholischen Kirche hängen, denken wohl zu wenig daran, wie groß die Zu-
muthungen sind, welche das Verfahren der ultramontanen Partei in Rom
unserer Geduld, Nachsicht und Menschenliebe stellt. Aufs Neue ist mit
größter Feierlichkeit von der alten Kirche der Fluch über unsere Seelen, über
unser Staatswesen, unsere Geistesbildung, über Vieles, was uns Allen natio¬
nale Ehre. Stolz. Tugend ist, ausgesprochen worden. Es ist kein beruhi¬
gendes Zugeständniß, und es ist eine baare Unwahrheit, wenn uns unter
der Hand versichert wird, daß es mit dem Anathema so schlimm nicht ge¬
meint sei und daß nur eine theoretische Feststellung der Glaubenslehren,
keinerlei Angriff auf die Andersgläubigen beabsichtigt werde. Denn es scheint
uns kein Unterschied, ob die ewige Verdammniß und die Strafen der Hölle über
uns beschworen werden, indem man uns mit Namen nennt, oder indem man
sagt, wer die Lehre Immanuel Kant's und die Untersuchungen von David
Strauß für wohlbegründet hält, sei verflucht. Wir merken doch, daß wir.
und gerade wir gemeint sind.

Wir müssen zunächst dem sittlichen Gefühl der deutschen Katholiken über-


Frankreich nicht zum zweiten Mal vorsichtige Zurückhaltung entgegenstellen
dürfen, sondern in solchem Fall die Führung französischer Empfindlichkeit
übernehmen und dem verletzten Stolz Frankreichs Genugthuung suchen. Das
ist in Deutschland allgemeine Annahme, wir wissen ziemlich genau, wie wir
mit ihm daran sind. Er kann uns kein Freund sein, aber er ist ein wohl¬
bekannter Nachbar, mit dessen Haushalt, stillen Gedanken und Interessen wir
einigermaßen vertraut sind, und es ist im Ganzen ein sicheres Verhältniß.
Darum wünschen wir aufrichtig, daß die große Abstimmung ihm in Wahr¬
heit zum Heile sei. Um so mehr, da die nächste Zukunft ein großes gemein¬
sames Interesse zu schaffen droht, das Interesse der civilisirten Staatsordnung
gegen den unfehlbaren Papst.

Die Antwort des Cardinal Antonelli auf die stillen Bedenken, welche
Graf Daru über die politischen Consequenzen der päpstlichen Unfehlbarkeit
ausgesprochen hatte, ist ein weitläufiges Actenstück und erweist die alte
Kunst des Vaticans, Thatsachen umzubiegen. Hauptsachen zu verschweigen
und mit tugendhafter Energie zu beweisen, was Niemand angezweifelt hat.
Jedoch in gewöhnliche Sprache übersetzt, gleicht sie genau der wohlbekannten
Antwort, welche der Vorstand einer altgläubigen Judenschule dem Minister
gab, als dieser das Unstatthafte des jüdischen Fluchgebets gegen Anders¬
gläubige vorstellte, „wir haben doch geflucht Z800 Jahre und es hat Ihnen
nichts geschadet." — Den altgläubigen Juden ist das Anathemasingen polizei¬
lich verboten worden, obgleich sie den Vorzug hatten, diese Technik 1000 Jahre
länger zu üben als die alte Kirche der Christen.

Unsere lieben Landsleute, welche mit Pietät an den Ueberlieferungen der
katholischen Kirche hängen, denken wohl zu wenig daran, wie groß die Zu-
muthungen sind, welche das Verfahren der ultramontanen Partei in Rom
unserer Geduld, Nachsicht und Menschenliebe stellt. Aufs Neue ist mit
größter Feierlichkeit von der alten Kirche der Fluch über unsere Seelen, über
unser Staatswesen, unsere Geistesbildung, über Vieles, was uns Allen natio¬
nale Ehre. Stolz. Tugend ist, ausgesprochen worden. Es ist kein beruhi¬
gendes Zugeständniß, und es ist eine baare Unwahrheit, wenn uns unter
der Hand versichert wird, daß es mit dem Anathema so schlimm nicht ge¬
meint sei und daß nur eine theoretische Feststellung der Glaubenslehren,
keinerlei Angriff auf die Andersgläubigen beabsichtigt werde. Denn es scheint
uns kein Unterschied, ob die ewige Verdammniß und die Strafen der Hölle über
uns beschworen werden, indem man uns mit Namen nennt, oder indem man
sagt, wer die Lehre Immanuel Kant's und die Untersuchungen von David
Strauß für wohlbegründet hält, sei verflucht. Wir merken doch, daß wir.
und gerade wir gemeint sind.

Wir müssen zunächst dem sittlichen Gefühl der deutschen Katholiken über-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/282>, abgerufen am 29.06.2024.