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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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noch ein Begriff des ganzen Tonartsystems aufgestellt wäre, so wüßte ich
keine Erklärungen zu geben und die Vorschriften könnten nur ganz recept¬
artig sein: daß die Septime in der obern Stimme, die Secund in der untern
sich abwärts auflöse; das Entgegengesetzte, daß in dem Septime die untere
Stimme, in der Secund die obere sich aufwärts bewege, kommt dann aller¬
dings in besonderen Fällen auch vor, aber als "Regel" könnte nur das
erstere aufgestellt werden, letzteres muß als "Ausnahme" gelten. Das
Gesetz ist die Regel und die Ausnahme; das liegt aber nicht auf der
Oberfläche, es läßt sich in dem Aeußerlichen allein nicht nachweisen und aus¬
sprechen. -- -- Die Dissonanz ist in der musikalischen Grammatik was
der Conjunctiv in der Sprachgrammatik, sie sagt: "ich würde sein" für
"ich bin". -- Einmal nachgewiesen, ist die Sache ein Correctes, Com-
pactes, das nicht jedesmal weiter zu analysiren ist, das als ein Geregeltes
in der Anwendung gerechtfertigt besteht. Denn man kann mit der Gram¬
matik nicht sprechen, und wenn man die Grammatik erklären will, so kann
es doch nur mit der Sprache geschehen, die durch die Grammatik erst erklärt
M. H. werden soll.--

Leipzig, den 21. Mai 1861.


Verehrter Herr Köhler!

... In jede Intention und Gefühlsregung des Componisten genau
eingehen -- das thun die Chorhandwerker nicht, und der Director wird sehr
zufrieden sein können, wenn er gute Handwerker hat. M. von Weber pflegte
zu sagen: "ich suche so zuschreiben, daß es klingt, wie ichs haben will, wenn
Jeder im Orchester und Chor nur seine verfluchte Schuldigkeit thut"; und er
hat ganz recht, denn mehr ist für die Dauer nicht zu erlangen. Dem Compo¬
nisten und der Composition zu Liebe thun sie nichts. Es läßt'sich sür die
einzelne Aufführung manchmal etwas Mehreres präpariren und künstlich auf¬
bauen, das fällt aber, wenn ein Stück Repertoirstück wird, bald wieder zu¬
sammen. Das gar subjective der Composition, was die Ausführung durch
ein größeres Personal erschwert, ist mir nun auch für das Stück in seiner
Eigenschaft als geistliche Musik ein Hinderniß, es in der Kirche aufgeführt
zu wünschen.---So glaube ich überhaupt nicht, daß die neueste Stim¬
mungsmusik in ihrem Gefühlsegoismus der Kirche eine recht zuträgliche werden
könne. Alle musikalische Bedeutsamkeit einer "Graner Messe" (von Lißt)
anerkannt und auf der Composition und dem Componisten beruhen lassend,
so macht sich in solcher Compositionsart doch immer der Componist unserem
Herrgott gegenüber gar zu breit und wichtig: es fehlt die Demuth, oder wo
sie ausgedrückt ist, geschieht es in einer so anspruchsvollen Weise, daß sie sich
selbst wieder aufhebt. -- Indem ich dieses schreibe, muß ich fortwährend in
unseren Probesaal der Thomasschule, der über meiner Wohnung liegt, eine


Grenzboten II. 1870, 20

noch ein Begriff des ganzen Tonartsystems aufgestellt wäre, so wüßte ich
keine Erklärungen zu geben und die Vorschriften könnten nur ganz recept¬
artig sein: daß die Septime in der obern Stimme, die Secund in der untern
sich abwärts auflöse; das Entgegengesetzte, daß in dem Septime die untere
Stimme, in der Secund die obere sich aufwärts bewege, kommt dann aller¬
dings in besonderen Fällen auch vor, aber als „Regel" könnte nur das
erstere aufgestellt werden, letzteres muß als „Ausnahme" gelten. Das
Gesetz ist die Regel und die Ausnahme; das liegt aber nicht auf der
Oberfläche, es läßt sich in dem Aeußerlichen allein nicht nachweisen und aus¬
sprechen. — — Die Dissonanz ist in der musikalischen Grammatik was
der Conjunctiv in der Sprachgrammatik, sie sagt: „ich würde sein" für
„ich bin". — Einmal nachgewiesen, ist die Sache ein Correctes, Com-
pactes, das nicht jedesmal weiter zu analysiren ist, das als ein Geregeltes
in der Anwendung gerechtfertigt besteht. Denn man kann mit der Gram¬
matik nicht sprechen, und wenn man die Grammatik erklären will, so kann
es doch nur mit der Sprache geschehen, die durch die Grammatik erst erklärt
M. H. werden soll.--

Leipzig, den 21. Mai 1861.


Verehrter Herr Köhler!

... In jede Intention und Gefühlsregung des Componisten genau
eingehen — das thun die Chorhandwerker nicht, und der Director wird sehr
zufrieden sein können, wenn er gute Handwerker hat. M. von Weber pflegte
zu sagen: „ich suche so zuschreiben, daß es klingt, wie ichs haben will, wenn
Jeder im Orchester und Chor nur seine verfluchte Schuldigkeit thut"; und er
hat ganz recht, denn mehr ist für die Dauer nicht zu erlangen. Dem Compo¬
nisten und der Composition zu Liebe thun sie nichts. Es läßt'sich sür die
einzelne Aufführung manchmal etwas Mehreres präpariren und künstlich auf¬
bauen, das fällt aber, wenn ein Stück Repertoirstück wird, bald wieder zu¬
sammen. Das gar subjective der Composition, was die Ausführung durch
ein größeres Personal erschwert, ist mir nun auch für das Stück in seiner
Eigenschaft als geistliche Musik ein Hinderniß, es in der Kirche aufgeführt
zu wünschen.---So glaube ich überhaupt nicht, daß die neueste Stim¬
mungsmusik in ihrem Gefühlsegoismus der Kirche eine recht zuträgliche werden
könne. Alle musikalische Bedeutsamkeit einer „Graner Messe" (von Lißt)
anerkannt und auf der Composition und dem Componisten beruhen lassend,
so macht sich in solcher Compositionsart doch immer der Componist unserem
Herrgott gegenüber gar zu breit und wichtig: es fehlt die Demuth, oder wo
sie ausgedrückt ist, geschieht es in einer so anspruchsvollen Weise, daß sie sich
selbst wieder aufhebt. — Indem ich dieses schreibe, muß ich fortwährend in
unseren Probesaal der Thomasschule, der über meiner Wohnung liegt, eine


Grenzboten II. 1870, 20
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/159>, abgerufen am 01.09.2024.