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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Gesinnung aufkommen. Er, der von Haus kosmopolitisch angelegte euro¬
päische Gelehrte, vermag es nicht, sein tief darniederliegendes Volk zu ver¬
leugnen; wenn sein Herz für das Wohl der ganzen Welt schlägt, so ist
für ihn die Hebung des eigenen Volkes nicht blos der Ausgangspunkt, son¬
dern er sieht in ihm das "Mittel Europas", den tüchtigen Kern der Mensch¬
heit, der nicht besser geholfen werden kann, als wenn den Deutschen ge¬
holfen wird.

Es ist von großem Interesse, in der langen Reihe von Schriften, mit
welchen Leibniz durch vierzig Jahre dem Gang der europäischen Ereignisse
folgte, das einemal den Staatsmann, das anderemal den Patrioten heraus¬
zuhören. Er ist immer beides zugleich, aber je nach dem Zweck der Schrift
überwiegt das eine oder das andere. Seine Anlage ist offenbar die des
Diplomaten. Mit merkwürdiger Sicherheit tritt er dreiundzwanzigjähriger
gleich in seiner ersten politischen Schrift auf, welche der polnischen Königs¬
wahl im Jahr 1669 gilt. Er faßt die europäischen Verhältnisse im Großen
und leitet aus ihnen die Aufgaben der Gegenwart mit der unwiderstehlichen
Logik des Mathematikers ab. Eine der Gefahren, die Deutschland drohen,
ist das russische Barbarenreich. Polen bildet eine Schutzmauer gegen dasselbe;
mit Deutschland zusammen soll es ein Damm sein gegen alle Weltreich¬
gelüste, "mögen sich solche regen, wo sie wollen." Daher das deutsche In¬
teresse an der Königswahl, welche Leibniz -- vergebens natürlich -- auf den
Pfalzgrafen von Neuburg gelenkt wissen will. In den Rathschlägen, welche
der Verfasser den Polen sür ihre innere Politik ertheilt, ist zugleich die Be-
ziehung auf das eigene Vaterland unverkennbar. Was er von der Schwie¬
rigkeit sagt, zwischen den Klippen einer zuchtlosen Auflösung und einer geist-
tödtenden Centralisirung hindurchzusteuern, was er insbesondere über das Be¬
dürfniß nach vernünftiger, namentlich mehr einheitlicher Gliederung sagt, hat
gleichzeitig Deutschland im Auge.

Die nächste Gefahr aber drohte Deutschland vom Westen. Im folgenden
Jahr begann Ludwig XIV. seine Feldzüge gegen Holland und das Reich; dies
blieb' fortan die europäische Constellation und gab auch der literarischen Thä¬
tigkeit Leibnizens dauernd die Richtung. Er bleibt der unermüdliche, trotz aller
Mißerfolge immer schlagfertige Gegner des französischen Königs, nur daß er,
immer an das Concrete, Nächstliegende anknüpfend, Waffen und Mittel wech¬
selt, und das einemal die Sache mehr als kühler Staatsmann angreift, das
anderemal agitatorisch sich an die öffentliche Meinung wendet. Die Schrift,
welche er 1670 und 1671 zum Theil vor, zum Theil nach dem Ausbruch des
holländischen Kriegs und nach der Wegnahme Lothringens schrieb: "Be¬
denken, welchergestalt die Sicherheit des deutschen Reichs auf festen Fuß zu'
stellen", ist eine Staatsschrift im eminenten Sinn. Leibniz vertritt darin


Gesinnung aufkommen. Er, der von Haus kosmopolitisch angelegte euro¬
päische Gelehrte, vermag es nicht, sein tief darniederliegendes Volk zu ver¬
leugnen; wenn sein Herz für das Wohl der ganzen Welt schlägt, so ist
für ihn die Hebung des eigenen Volkes nicht blos der Ausgangspunkt, son¬
dern er sieht in ihm das „Mittel Europas", den tüchtigen Kern der Mensch¬
heit, der nicht besser geholfen werden kann, als wenn den Deutschen ge¬
holfen wird.

Es ist von großem Interesse, in der langen Reihe von Schriften, mit
welchen Leibniz durch vierzig Jahre dem Gang der europäischen Ereignisse
folgte, das einemal den Staatsmann, das anderemal den Patrioten heraus¬
zuhören. Er ist immer beides zugleich, aber je nach dem Zweck der Schrift
überwiegt das eine oder das andere. Seine Anlage ist offenbar die des
Diplomaten. Mit merkwürdiger Sicherheit tritt er dreiundzwanzigjähriger
gleich in seiner ersten politischen Schrift auf, welche der polnischen Königs¬
wahl im Jahr 1669 gilt. Er faßt die europäischen Verhältnisse im Großen
und leitet aus ihnen die Aufgaben der Gegenwart mit der unwiderstehlichen
Logik des Mathematikers ab. Eine der Gefahren, die Deutschland drohen,
ist das russische Barbarenreich. Polen bildet eine Schutzmauer gegen dasselbe;
mit Deutschland zusammen soll es ein Damm sein gegen alle Weltreich¬
gelüste, „mögen sich solche regen, wo sie wollen." Daher das deutsche In¬
teresse an der Königswahl, welche Leibniz — vergebens natürlich — auf den
Pfalzgrafen von Neuburg gelenkt wissen will. In den Rathschlägen, welche
der Verfasser den Polen sür ihre innere Politik ertheilt, ist zugleich die Be-
ziehung auf das eigene Vaterland unverkennbar. Was er von der Schwie¬
rigkeit sagt, zwischen den Klippen einer zuchtlosen Auflösung und einer geist-
tödtenden Centralisirung hindurchzusteuern, was er insbesondere über das Be¬
dürfniß nach vernünftiger, namentlich mehr einheitlicher Gliederung sagt, hat
gleichzeitig Deutschland im Auge.

Die nächste Gefahr aber drohte Deutschland vom Westen. Im folgenden
Jahr begann Ludwig XIV. seine Feldzüge gegen Holland und das Reich; dies
blieb' fortan die europäische Constellation und gab auch der literarischen Thä¬
tigkeit Leibnizens dauernd die Richtung. Er bleibt der unermüdliche, trotz aller
Mißerfolge immer schlagfertige Gegner des französischen Königs, nur daß er,
immer an das Concrete, Nächstliegende anknüpfend, Waffen und Mittel wech¬
selt, und das einemal die Sache mehr als kühler Staatsmann angreift, das
anderemal agitatorisch sich an die öffentliche Meinung wendet. Die Schrift,
welche er 1670 und 1671 zum Theil vor, zum Theil nach dem Ausbruch des
holländischen Kriegs und nach der Wegnahme Lothringens schrieb: „Be¬
denken, welchergestalt die Sicherheit des deutschen Reichs auf festen Fuß zu'
stellen", ist eine Staatsschrift im eminenten Sinn. Leibniz vertritt darin


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/11>, abgerufen am 27.07.2024.