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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Bergwerke und Fabriken umfassendes Verantwortlichkeitsgesetz aufgestellt, die
viel zu wünschen übrig lassen. Dieselben behandeln die Eisenbahnen im Vergleich
zu den Bergwerken mit ersichtlicher Ungunst; sie lassen den Bergwerksbesitzer frei
ausgehen, wenn einer seiner Arbeiter Schaden angerichtet hat; sie vermengen
die Haftbarkeitsfrage auf eine höchst unzulässige Weise mit den Knappschafts¬
und sonstigen Unterstützungscassen, über deren jetzige kümmerliche Zwangs¬
gestalt der Reichstag in seiner nächsten Session voraussichtlich den Stab
brechen wird, -- und was der Mängel mehr sind. Die Schiffsunfälle endlich
-- und das ist die schlimmste seiner Naivetäten -- verweist er auf das Han¬
delsgesetzbuch. Er weiß nicht oder läßt aus Gott weiß was für Gründen
unbeachtet, daß die fraglichen Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs todte
Buchstaben geblieben sind.

Seitdem die Dampfschifffahrt ihre heutigen kolossalen Dimensionen an¬
genommen hat, sind die Schiffsunfälle in noch weit erschreckenderem Verhält¬
niß gewachsen, als die Wagenunfälle durch die Eisenbahnen, oder die Ma¬
schinenunfälle durch die Fabrikindustrie. Jene furchtbaren, aber glücklicherweise
doch ziemlich seltenen Katastrophen, in denen ein menschengefüllter Dampfer im
Ocean mit Mann und Maus untergeht oder irgendwo auf den Strand läuft,
um wrack zu werden, sind dabei noch kaum der böseste Posten. Die Rolle eines
solchen spielen vielmehr die zahllosen Zusammenstöße mit Segelschiffen oder an¬
deren Dampfern, und die Uebersegelungen der ersteren. Was sie unserem
Culturbewußtsein so empfindlich machen muß, ist die unleugbare Thatsache,
daß eine große, vielleicht die größte Zahl von ihnen vermeidlich wäre. Die
fatalen Collisionen entstehen meistens dadurch, daß die Post- und Passagier¬
dampfer auch bei Nebel oder ungewöhnlich trüber Luft und in vielbefahrenen
Gewässern, wie z. B. dem Canal mit voller Kraft fahren. Die Capitäne
kennen die Gefahr dieses Darauflosjagens natürlich so gut wie andere Leute;
manchem unter ihnen blutet das Herz, wenn er den Bug seines Schiffes über ein
Fischerboot oder einen kleinen Schooner hinwegschießen sieht, mit dem ein
paar Familienväter rettungslos in die Tiefe gehen. Allein hinter ihnen ist
die gewaltige Peitsche der Concurrenz, mit der der Rheder sie unerbittlich
vorwärtstreibt. Nach der Schnelligkeit der durchschnittlichen Fahrten wählt
z. B. zwischen Europa und Amerika das Publicum die Linie und die ein¬
zelnen Dampfer aus, vergeben die PostVerwaltungen ihre allbegehrten Con-
tracte. Der Verlust, ja die Unmöglichkeit einträglichen Betriebs, bei einer
auf Sicherheit berechneten langsamen Fahrt ist gewiß, der Nachtheil im ent¬
gegengesetzten Falle ungewiß -- so versteht sich die Wahl des Rheders von
selbst, und gäbe es unter ihnen (die doch meistens als Actionäre nur fragment¬
weise persönlich betheiligt sind) so gewissenhafte, daß sie ihren Gewinn nicht
auf Kosten von Menschenleben erkaufen möchten, so würde die unabwendbare


Bergwerke und Fabriken umfassendes Verantwortlichkeitsgesetz aufgestellt, die
viel zu wünschen übrig lassen. Dieselben behandeln die Eisenbahnen im Vergleich
zu den Bergwerken mit ersichtlicher Ungunst; sie lassen den Bergwerksbesitzer frei
ausgehen, wenn einer seiner Arbeiter Schaden angerichtet hat; sie vermengen
die Haftbarkeitsfrage auf eine höchst unzulässige Weise mit den Knappschafts¬
und sonstigen Unterstützungscassen, über deren jetzige kümmerliche Zwangs¬
gestalt der Reichstag in seiner nächsten Session voraussichtlich den Stab
brechen wird, — und was der Mängel mehr sind. Die Schiffsunfälle endlich
— und das ist die schlimmste seiner Naivetäten — verweist er auf das Han¬
delsgesetzbuch. Er weiß nicht oder läßt aus Gott weiß was für Gründen
unbeachtet, daß die fraglichen Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs todte
Buchstaben geblieben sind.

Seitdem die Dampfschifffahrt ihre heutigen kolossalen Dimensionen an¬
genommen hat, sind die Schiffsunfälle in noch weit erschreckenderem Verhält¬
niß gewachsen, als die Wagenunfälle durch die Eisenbahnen, oder die Ma¬
schinenunfälle durch die Fabrikindustrie. Jene furchtbaren, aber glücklicherweise
doch ziemlich seltenen Katastrophen, in denen ein menschengefüllter Dampfer im
Ocean mit Mann und Maus untergeht oder irgendwo auf den Strand läuft,
um wrack zu werden, sind dabei noch kaum der böseste Posten. Die Rolle eines
solchen spielen vielmehr die zahllosen Zusammenstöße mit Segelschiffen oder an¬
deren Dampfern, und die Uebersegelungen der ersteren. Was sie unserem
Culturbewußtsein so empfindlich machen muß, ist die unleugbare Thatsache,
daß eine große, vielleicht die größte Zahl von ihnen vermeidlich wäre. Die
fatalen Collisionen entstehen meistens dadurch, daß die Post- und Passagier¬
dampfer auch bei Nebel oder ungewöhnlich trüber Luft und in vielbefahrenen
Gewässern, wie z. B. dem Canal mit voller Kraft fahren. Die Capitäne
kennen die Gefahr dieses Darauflosjagens natürlich so gut wie andere Leute;
manchem unter ihnen blutet das Herz, wenn er den Bug seines Schiffes über ein
Fischerboot oder einen kleinen Schooner hinwegschießen sieht, mit dem ein
paar Familienväter rettungslos in die Tiefe gehen. Allein hinter ihnen ist
die gewaltige Peitsche der Concurrenz, mit der der Rheder sie unerbittlich
vorwärtstreibt. Nach der Schnelligkeit der durchschnittlichen Fahrten wählt
z. B. zwischen Europa und Amerika das Publicum die Linie und die ein¬
zelnen Dampfer aus, vergeben die PostVerwaltungen ihre allbegehrten Con-
tracte. Der Verlust, ja die Unmöglichkeit einträglichen Betriebs, bei einer
auf Sicherheit berechneten langsamen Fahrt ist gewiß, der Nachtheil im ent¬
gegengesetzten Falle ungewiß — so versteht sich die Wahl des Rheders von
selbst, und gäbe es unter ihnen (die doch meistens als Actionäre nur fragment¬
weise persönlich betheiligt sind) so gewissenhafte, daß sie ihren Gewinn nicht
auf Kosten von Menschenleben erkaufen möchten, so würde die unabwendbare


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[0509] Bergwerke und Fabriken umfassendes Verantwortlichkeitsgesetz aufgestellt, die viel zu wünschen übrig lassen. Dieselben behandeln die Eisenbahnen im Vergleich zu den Bergwerken mit ersichtlicher Ungunst; sie lassen den Bergwerksbesitzer frei ausgehen, wenn einer seiner Arbeiter Schaden angerichtet hat; sie vermengen die Haftbarkeitsfrage auf eine höchst unzulässige Weise mit den Knappschafts¬ und sonstigen Unterstützungscassen, über deren jetzige kümmerliche Zwangs¬ gestalt der Reichstag in seiner nächsten Session voraussichtlich den Stab brechen wird, — und was der Mängel mehr sind. Die Schiffsunfälle endlich — und das ist die schlimmste seiner Naivetäten — verweist er auf das Han¬ delsgesetzbuch. Er weiß nicht oder läßt aus Gott weiß was für Gründen unbeachtet, daß die fraglichen Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs todte Buchstaben geblieben sind. Seitdem die Dampfschifffahrt ihre heutigen kolossalen Dimensionen an¬ genommen hat, sind die Schiffsunfälle in noch weit erschreckenderem Verhält¬ niß gewachsen, als die Wagenunfälle durch die Eisenbahnen, oder die Ma¬ schinenunfälle durch die Fabrikindustrie. Jene furchtbaren, aber glücklicherweise doch ziemlich seltenen Katastrophen, in denen ein menschengefüllter Dampfer im Ocean mit Mann und Maus untergeht oder irgendwo auf den Strand läuft, um wrack zu werden, sind dabei noch kaum der böseste Posten. Die Rolle eines solchen spielen vielmehr die zahllosen Zusammenstöße mit Segelschiffen oder an¬ deren Dampfern, und die Uebersegelungen der ersteren. Was sie unserem Culturbewußtsein so empfindlich machen muß, ist die unleugbare Thatsache, daß eine große, vielleicht die größte Zahl von ihnen vermeidlich wäre. Die fatalen Collisionen entstehen meistens dadurch, daß die Post- und Passagier¬ dampfer auch bei Nebel oder ungewöhnlich trüber Luft und in vielbefahrenen Gewässern, wie z. B. dem Canal mit voller Kraft fahren. Die Capitäne kennen die Gefahr dieses Darauflosjagens natürlich so gut wie andere Leute; manchem unter ihnen blutet das Herz, wenn er den Bug seines Schiffes über ein Fischerboot oder einen kleinen Schooner hinwegschießen sieht, mit dem ein paar Familienväter rettungslos in die Tiefe gehen. Allein hinter ihnen ist die gewaltige Peitsche der Concurrenz, mit der der Rheder sie unerbittlich vorwärtstreibt. Nach der Schnelligkeit der durchschnittlichen Fahrten wählt z. B. zwischen Europa und Amerika das Publicum die Linie und die ein¬ zelnen Dampfer aus, vergeben die PostVerwaltungen ihre allbegehrten Con- tracte. Der Verlust, ja die Unmöglichkeit einträglichen Betriebs, bei einer auf Sicherheit berechneten langsamen Fahrt ist gewiß, der Nachtheil im ent¬ gegengesetzten Falle ungewiß — so versteht sich die Wahl des Rheders von selbst, und gäbe es unter ihnen (die doch meistens als Actionäre nur fragment¬ weise persönlich betheiligt sind) so gewissenhafte, daß sie ihren Gewinn nicht auf Kosten von Menschenleben erkaufen möchten, so würde die unabwendbare

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/509>, abgerufen am 26.06.2024.