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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Zeit in Anschlag bringen, immer wird es die heillose Zerrüttung der höchsten
sittlichen Begriffe, die Fäulniß in allen Grundlagen eines ehrenhaften Da¬
seins mit Schmerz anerkennen müssen. Wie das Haupt so die Glieder und
umgekehrt. Denn wie die Stadt Frankfurt ein concentrirtes Spiegelbild
jenes vollen Gegentheils dessen darstellt, was man unter Rechtsstaat und
Nationalbewußtsein versteht, jener eontusiv äivimtus Instituts,, welche den
Namen des heiligen römischen Reiches trug, so empfand auch jedes einzelne
Glied bald mehr bald minder deutlich nachweisbar die giftigen Säfte, die
dort in Frankfurt wie in der großen Eiterbeule gekocht wurden. Ein Boden,
der einen Erasmus Senckenberg erzeugen und großziehen konnte, war unfähig,
etwas wirklich Gutes und Ehrenhaftes hervorzubringen. Man darf ohne
Widerspruch behaupten: nur wer es wie Goethe. Klinger und Schlosser ver¬
stand, zur rechten Zeit seiner Vaterstadt den Rücken zu kehren, vermochte
etwas Großes und Tüchtiges zu werden: in der heimischen Luft wären die
meisten verkümmert oder untergegangen. Eine gewisse üppige Fruchtbarkeit
wohnie diesem Boden unläugbar ein, nicht bloß nach dem Maßstab, der im
vorigen Jahrhundert für unser ganzes deutsches Vaterland gilt -- denn
welche Periode seit der Wendung des 15. und 16. Jahrhunderts ist damit zu
vergleichen? -- sondern es scheint, als wenn die natürliche Basis der Volks¬
art mit ihrer glücklichen Begabung durch den Einfluß der gleichsam als
Reizmittel wirkenden Giftstoffe zu einer Productivität angeregt worden wäre,
welche das durchschnittliche Maß weit übertrifft. Aecht geniale Naturen er¬
wuchsen hier aus dem Schoße des Reichsbürgerthums, das man sich gewöhn¬
lich nicht verzopft und verkrüppelt genug denken kann. Und in gewissem
Sinn war es dies auch in Frankfurt, aber doch in anderer Art als in
Nürnberg. Ulm, Augsburg, wo man sich vergeblich nach einem Goethe, aber
auch zum Glück vergeblich nach einem Erasmus Senckenberg umsieht.

Ein Original, wie seine beiden älteren Brüder, der große Publicist --
Heinrich Christian und der geniale Arzt Johann Christian, war auch dieser
jüngste Senckenberg. Aber während die beiden älteren sich durch eigene Kraft
aus dem Schlamme der sie umgebenden Gemeinheit und Verdorbenheit er¬
hoben und als herbe und strenge Charaktere oft mit Witz und Laune, noch
öfter mit Härte und Pedanterie ihre Lebenswege nach den Geboten einer
unbeugsamen sittlichen Regelrichtigkeit gestalteten, der ältere Bruder mitten
im Treiben der Weltstadt Wien als isolirter Wühler in Acten und Urkunden,
der jüngere als ebenso isolirter Menschenfreund und Arzt im großen Stile,
blieb der jüngste in dem Sumpf seiner Heimath stecken und versank zuletzt
in ihm. Den beiden älteren war es zu Statten gekommen, daß die eigene
Mutter, ein Monstrum von Verkehrtheit, sie nicht leiden mochte und auf alle
Weise quälte. Der jüngste war, man möchte sagen durch ihren natürlichen


Zeit in Anschlag bringen, immer wird es die heillose Zerrüttung der höchsten
sittlichen Begriffe, die Fäulniß in allen Grundlagen eines ehrenhaften Da¬
seins mit Schmerz anerkennen müssen. Wie das Haupt so die Glieder und
umgekehrt. Denn wie die Stadt Frankfurt ein concentrirtes Spiegelbild
jenes vollen Gegentheils dessen darstellt, was man unter Rechtsstaat und
Nationalbewußtsein versteht, jener eontusiv äivimtus Instituts,, welche den
Namen des heiligen römischen Reiches trug, so empfand auch jedes einzelne
Glied bald mehr bald minder deutlich nachweisbar die giftigen Säfte, die
dort in Frankfurt wie in der großen Eiterbeule gekocht wurden. Ein Boden,
der einen Erasmus Senckenberg erzeugen und großziehen konnte, war unfähig,
etwas wirklich Gutes und Ehrenhaftes hervorzubringen. Man darf ohne
Widerspruch behaupten: nur wer es wie Goethe. Klinger und Schlosser ver¬
stand, zur rechten Zeit seiner Vaterstadt den Rücken zu kehren, vermochte
etwas Großes und Tüchtiges zu werden: in der heimischen Luft wären die
meisten verkümmert oder untergegangen. Eine gewisse üppige Fruchtbarkeit
wohnie diesem Boden unläugbar ein, nicht bloß nach dem Maßstab, der im
vorigen Jahrhundert für unser ganzes deutsches Vaterland gilt — denn
welche Periode seit der Wendung des 15. und 16. Jahrhunderts ist damit zu
vergleichen? — sondern es scheint, als wenn die natürliche Basis der Volks¬
art mit ihrer glücklichen Begabung durch den Einfluß der gleichsam als
Reizmittel wirkenden Giftstoffe zu einer Productivität angeregt worden wäre,
welche das durchschnittliche Maß weit übertrifft. Aecht geniale Naturen er¬
wuchsen hier aus dem Schoße des Reichsbürgerthums, das man sich gewöhn¬
lich nicht verzopft und verkrüppelt genug denken kann. Und in gewissem
Sinn war es dies auch in Frankfurt, aber doch in anderer Art als in
Nürnberg. Ulm, Augsburg, wo man sich vergeblich nach einem Goethe, aber
auch zum Glück vergeblich nach einem Erasmus Senckenberg umsieht.

Ein Original, wie seine beiden älteren Brüder, der große Publicist —
Heinrich Christian und der geniale Arzt Johann Christian, war auch dieser
jüngste Senckenberg. Aber während die beiden älteren sich durch eigene Kraft
aus dem Schlamme der sie umgebenden Gemeinheit und Verdorbenheit er¬
hoben und als herbe und strenge Charaktere oft mit Witz und Laune, noch
öfter mit Härte und Pedanterie ihre Lebenswege nach den Geboten einer
unbeugsamen sittlichen Regelrichtigkeit gestalteten, der ältere Bruder mitten
im Treiben der Weltstadt Wien als isolirter Wühler in Acten und Urkunden,
der jüngere als ebenso isolirter Menschenfreund und Arzt im großen Stile,
blieb der jüngste in dem Sumpf seiner Heimath stecken und versank zuletzt
in ihm. Den beiden älteren war es zu Statten gekommen, daß die eigene
Mutter, ein Monstrum von Verkehrtheit, sie nicht leiden mochte und auf alle
Weise quälte. Der jüngste war, man möchte sagen durch ihren natürlichen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/341>, abgerufen am 24.08.2024.