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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Nationalstaats selbst ist bei all diesen Calamitäten gar nicht in Frage. Für
sämmtliche Parteien ist die Einheit selbstverständliche Voraussetzung, und Nie¬
mand denkt daran, daß sie durch die häufig wiederkehrenden inneren Krisen
gefährdet werden könnte. Niemals sind in dem heftigen Krieg der Parteien
Bestrebungen hervorgetreten, deren Ziel die Auflösung der Staatseinheit
wäre. Es gibt keine Partei der Depossedirten. Wohl zeigt die Skandal¬
presse ein Temperament, das selbst uns Deutschen, die wir doch seit drei
Jahren an Starkes gewöhnt sind, unerhört erscheint. Allein auch für die
äußersten Parteien in Italien gibt es eine Grenze, wo ihnen das Bewußt¬
sein der nationalen Ehre wiederkehrt. Es kommt ihnen zu statten, daß am
Werk der Wiedergeburt ihre Häupter activ betheiligt sind und diese Erinnerun¬
gen würden wieder durchschlagen, sobald eine große Gefahr im Anzüge wäre;
vollends aufs äußerste verächtlich erschiene es, im inneren Kampf der Par¬
teien auf auswärtige Freundschaften oder Eventualitäten zu speculiren. Das
mögen wir uns in Erinnerung bringen, wenn wir versucht sein sollten, mit
selbstgerechter Miene auf den traurigen Zustand des heutigen Italien zu
blicken. Die Begriffe des Schicklichen sind nicht dieselben bei allen Völkern.
Laxer sind die Sitten der Italiener in den Dingen der privaten Geschäfts¬
sphäre, das hat zu vielen anderen Beispielen auch die Untersuchung in der
Tabaksangelegenheit gezeigt. Allein andererseits wären ohne Zweifel jene
Geschäfte, welche die Bürger der alten Reichsstadt am Main betrieben, um
sich um ihre bürgerliche Pflicht herumzuschleichen, überall sonst mit einem
solchen Makel behaftet, daß sie unmöglich wären. Das Staatsgefühl ist bei
den Italiern noch so wenig entwickelt als bei uns Deutschen, aber ihr Ge¬
Gefühl der nationalen Ehre ist unstreitig feiner und empfindlicher. Und nur
in Einem können wir uns einer entschiedenen Ueberlegenheit rühmen: Deutsch¬
land besitzt eine starke Regierung, und wer je im Verdruß über die Lang¬
samkeit oder die verkehrten Wege der Gesetzgebung vergessen würde, was dies
in politischen Uebergangszeiten für ein Land werth ist, der mag am Beispiel
Italiens erkennen, was die Folgen des Gegentheils, d. h. eines parlamen¬
tarischen Apparats ohne die Autorität einer starken Staatsgewalt sind.


W. L.


Nationalstaats selbst ist bei all diesen Calamitäten gar nicht in Frage. Für
sämmtliche Parteien ist die Einheit selbstverständliche Voraussetzung, und Nie¬
mand denkt daran, daß sie durch die häufig wiederkehrenden inneren Krisen
gefährdet werden könnte. Niemals sind in dem heftigen Krieg der Parteien
Bestrebungen hervorgetreten, deren Ziel die Auflösung der Staatseinheit
wäre. Es gibt keine Partei der Depossedirten. Wohl zeigt die Skandal¬
presse ein Temperament, das selbst uns Deutschen, die wir doch seit drei
Jahren an Starkes gewöhnt sind, unerhört erscheint. Allein auch für die
äußersten Parteien in Italien gibt es eine Grenze, wo ihnen das Bewußt¬
sein der nationalen Ehre wiederkehrt. Es kommt ihnen zu statten, daß am
Werk der Wiedergeburt ihre Häupter activ betheiligt sind und diese Erinnerun¬
gen würden wieder durchschlagen, sobald eine große Gefahr im Anzüge wäre;
vollends aufs äußerste verächtlich erschiene es, im inneren Kampf der Par¬
teien auf auswärtige Freundschaften oder Eventualitäten zu speculiren. Das
mögen wir uns in Erinnerung bringen, wenn wir versucht sein sollten, mit
selbstgerechter Miene auf den traurigen Zustand des heutigen Italien zu
blicken. Die Begriffe des Schicklichen sind nicht dieselben bei allen Völkern.
Laxer sind die Sitten der Italiener in den Dingen der privaten Geschäfts¬
sphäre, das hat zu vielen anderen Beispielen auch die Untersuchung in der
Tabaksangelegenheit gezeigt. Allein andererseits wären ohne Zweifel jene
Geschäfte, welche die Bürger der alten Reichsstadt am Main betrieben, um
sich um ihre bürgerliche Pflicht herumzuschleichen, überall sonst mit einem
solchen Makel behaftet, daß sie unmöglich wären. Das Staatsgefühl ist bei
den Italiern noch so wenig entwickelt als bei uns Deutschen, aber ihr Ge¬
Gefühl der nationalen Ehre ist unstreitig feiner und empfindlicher. Und nur
in Einem können wir uns einer entschiedenen Ueberlegenheit rühmen: Deutsch¬
land besitzt eine starke Regierung, und wer je im Verdruß über die Lang¬
samkeit oder die verkehrten Wege der Gesetzgebung vergessen würde, was dies
in politischen Uebergangszeiten für ein Land werth ist, der mag am Beispiel
Italiens erkennen, was die Folgen des Gegentheils, d. h. eines parlamen¬
tarischen Apparats ohne die Autorität einer starken Staatsgewalt sind.


W. L.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/23>, abgerufen am 22.07.2024.