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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Seite allerdings als ein zweifelhaftes Manöver zur Selbsterhaltung ausge¬
legt werden wird. Allein übertriebene Delicatesse ist hier nicht am Platze.
So lange die Regierung das gesetzliche Recht hat, die Wahlbezirke nach ihrem
Belieben zusammenzusetzen, ist nicht abzusehen, warum sie in so kritischer Lage
nicht davon Gebrauch machen sollte. Ein Ministerium gegnerischer Farbe
wäre mit solchen gesetzlichen Mitteln in der Hand sicher nicht blöde. Uebri-
gens handelt es sich dabei gar nicht um eine Frage der Delicatesse, son¬
dern um die Abstellung einer wirklichen Unbilligkeit. Die jetzige Wahlein¬
theilung stammt aus der Pfordten-Reigersbergischen Periode, ist mit Berech¬
nung in reactionären Sinne zugeschnitten und vor Allem darauf bedacht, die
Stimmen der Städte in den Stimmen des Landes zu ersticken. Schon im
Jahr 1863 verlangte die Linke vergebens eine Veränderung der Wahlbezirke;
damals war es die heutige Mittelpartei, die damalige großdeutsche Mehrheit,
welche die Beibehaltung eines Systems entschied, dessen Folgen sie jetzt am
allermeisten getroffen haben. Da sämmtliche Städte, mit Ausnahme von
Freising und Regensburg, liberal gewählt haben, so liegt es auf der Hand,
welche Folgen es haben wird, wenn den Stimmen der Städte eine Geltung
gesichert wird, welche sie in der That beanspruchen können. Man erwartet,
daß die Regierung auch sonst bemüht sein werde, eine größere Autorität
auszuüben. Wenigstens die anstößigsten Fälle von zu weit getriebener Tole¬
ranz müßten abgestellt werden. Das Manifest, das man von Seite des Mi¬
nisteriums erwartet, wird zeigen, inwiefern es sich zu einer Gesammtaction
aufzuraffen vermag. Im Ganzen ist nicht zu verkennen, daß durch das ma߬
lose Auftreten der Ultramontanen, wie die Mittelpartei nach links gedrängt
wurde, so auch das Ministerium an Geschlossenheit gewonnen hat und wenn
es nur ernstlich will, im Stande ist, eine größere Kraft des Widerstands
und stärkeren Einfluß auf die nächsten Wahlen auszuüben.

Indessen, wenn auch das Loos anders fiele und eine entschiedene Mehr¬
heit für die Clericalen aus der Wahlurne hervorgehen würde, dürfte man die
Besorgnisse vor der neuen Aera nicht übertreiben. Die clerical-bureaukratischen
Zeiten eines Abel sind vorüber; die Programme der Schwarzen würden be¬
scheidener werden, sobald sie ans Ruder gelangten. Es ist nicht unglaublich, wenn
versichert wird, daß sie im Vertrauen selbst gestanden, es sei ihnen bequemer, in
der Opposition zu sitzen als in der Gewalt. Der Werth der Versprechungen,
mit welchen sie das Landvolk geködert, würde in kurzem auf die Probe gestellt
werden. Denn nicht bloß mit Erweckung der Begeisterung für die Jung¬
frau Maria und alle Heiligen, sondern weit mehr mit Versprechungen sehr
materieller Art haben sie die Stimmen des Landvolkes für ihre Candidaten
gewonnen. Wie in Würtemberg die Volkspartei, so haben in Bayern die
Clericalen ihre Argumente vornehmlich den unerschwinglichen Steuerüber-


Seite allerdings als ein zweifelhaftes Manöver zur Selbsterhaltung ausge¬
legt werden wird. Allein übertriebene Delicatesse ist hier nicht am Platze.
So lange die Regierung das gesetzliche Recht hat, die Wahlbezirke nach ihrem
Belieben zusammenzusetzen, ist nicht abzusehen, warum sie in so kritischer Lage
nicht davon Gebrauch machen sollte. Ein Ministerium gegnerischer Farbe
wäre mit solchen gesetzlichen Mitteln in der Hand sicher nicht blöde. Uebri-
gens handelt es sich dabei gar nicht um eine Frage der Delicatesse, son¬
dern um die Abstellung einer wirklichen Unbilligkeit. Die jetzige Wahlein¬
theilung stammt aus der Pfordten-Reigersbergischen Periode, ist mit Berech¬
nung in reactionären Sinne zugeschnitten und vor Allem darauf bedacht, die
Stimmen der Städte in den Stimmen des Landes zu ersticken. Schon im
Jahr 1863 verlangte die Linke vergebens eine Veränderung der Wahlbezirke;
damals war es die heutige Mittelpartei, die damalige großdeutsche Mehrheit,
welche die Beibehaltung eines Systems entschied, dessen Folgen sie jetzt am
allermeisten getroffen haben. Da sämmtliche Städte, mit Ausnahme von
Freising und Regensburg, liberal gewählt haben, so liegt es auf der Hand,
welche Folgen es haben wird, wenn den Stimmen der Städte eine Geltung
gesichert wird, welche sie in der That beanspruchen können. Man erwartet,
daß die Regierung auch sonst bemüht sein werde, eine größere Autorität
auszuüben. Wenigstens die anstößigsten Fälle von zu weit getriebener Tole¬
ranz müßten abgestellt werden. Das Manifest, das man von Seite des Mi¬
nisteriums erwartet, wird zeigen, inwiefern es sich zu einer Gesammtaction
aufzuraffen vermag. Im Ganzen ist nicht zu verkennen, daß durch das ma߬
lose Auftreten der Ultramontanen, wie die Mittelpartei nach links gedrängt
wurde, so auch das Ministerium an Geschlossenheit gewonnen hat und wenn
es nur ernstlich will, im Stande ist, eine größere Kraft des Widerstands
und stärkeren Einfluß auf die nächsten Wahlen auszuüben.

Indessen, wenn auch das Loos anders fiele und eine entschiedene Mehr¬
heit für die Clericalen aus der Wahlurne hervorgehen würde, dürfte man die
Besorgnisse vor der neuen Aera nicht übertreiben. Die clerical-bureaukratischen
Zeiten eines Abel sind vorüber; die Programme der Schwarzen würden be¬
scheidener werden, sobald sie ans Ruder gelangten. Es ist nicht unglaublich, wenn
versichert wird, daß sie im Vertrauen selbst gestanden, es sei ihnen bequemer, in
der Opposition zu sitzen als in der Gewalt. Der Werth der Versprechungen,
mit welchen sie das Landvolk geködert, würde in kurzem auf die Probe gestellt
werden. Denn nicht bloß mit Erweckung der Begeisterung für die Jung¬
frau Maria und alle Heiligen, sondern weit mehr mit Versprechungen sehr
materieller Art haben sie die Stimmen des Landvolkes für ihre Candidaten
gewonnen. Wie in Würtemberg die Volkspartei, so haben in Bayern die
Clericalen ihre Argumente vornehmlich den unerschwinglichen Steuerüber-


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[0134] Seite allerdings als ein zweifelhaftes Manöver zur Selbsterhaltung ausge¬ legt werden wird. Allein übertriebene Delicatesse ist hier nicht am Platze. So lange die Regierung das gesetzliche Recht hat, die Wahlbezirke nach ihrem Belieben zusammenzusetzen, ist nicht abzusehen, warum sie in so kritischer Lage nicht davon Gebrauch machen sollte. Ein Ministerium gegnerischer Farbe wäre mit solchen gesetzlichen Mitteln in der Hand sicher nicht blöde. Uebri- gens handelt es sich dabei gar nicht um eine Frage der Delicatesse, son¬ dern um die Abstellung einer wirklichen Unbilligkeit. Die jetzige Wahlein¬ theilung stammt aus der Pfordten-Reigersbergischen Periode, ist mit Berech¬ nung in reactionären Sinne zugeschnitten und vor Allem darauf bedacht, die Stimmen der Städte in den Stimmen des Landes zu ersticken. Schon im Jahr 1863 verlangte die Linke vergebens eine Veränderung der Wahlbezirke; damals war es die heutige Mittelpartei, die damalige großdeutsche Mehrheit, welche die Beibehaltung eines Systems entschied, dessen Folgen sie jetzt am allermeisten getroffen haben. Da sämmtliche Städte, mit Ausnahme von Freising und Regensburg, liberal gewählt haben, so liegt es auf der Hand, welche Folgen es haben wird, wenn den Stimmen der Städte eine Geltung gesichert wird, welche sie in der That beanspruchen können. Man erwartet, daß die Regierung auch sonst bemüht sein werde, eine größere Autorität auszuüben. Wenigstens die anstößigsten Fälle von zu weit getriebener Tole¬ ranz müßten abgestellt werden. Das Manifest, das man von Seite des Mi¬ nisteriums erwartet, wird zeigen, inwiefern es sich zu einer Gesammtaction aufzuraffen vermag. Im Ganzen ist nicht zu verkennen, daß durch das ma߬ lose Auftreten der Ultramontanen, wie die Mittelpartei nach links gedrängt wurde, so auch das Ministerium an Geschlossenheit gewonnen hat und wenn es nur ernstlich will, im Stande ist, eine größere Kraft des Widerstands und stärkeren Einfluß auf die nächsten Wahlen auszuüben. Indessen, wenn auch das Loos anders fiele und eine entschiedene Mehr¬ heit für die Clericalen aus der Wahlurne hervorgehen würde, dürfte man die Besorgnisse vor der neuen Aera nicht übertreiben. Die clerical-bureaukratischen Zeiten eines Abel sind vorüber; die Programme der Schwarzen würden be¬ scheidener werden, sobald sie ans Ruder gelangten. Es ist nicht unglaublich, wenn versichert wird, daß sie im Vertrauen selbst gestanden, es sei ihnen bequemer, in der Opposition zu sitzen als in der Gewalt. Der Werth der Versprechungen, mit welchen sie das Landvolk geködert, würde in kurzem auf die Probe gestellt werden. Denn nicht bloß mit Erweckung der Begeisterung für die Jung¬ frau Maria und alle Heiligen, sondern weit mehr mit Versprechungen sehr materieller Art haben sie die Stimmen des Landvolkes für ihre Candidaten gewonnen. Wie in Würtemberg die Volkspartei, so haben in Bayern die Clericalen ihre Argumente vornehmlich den unerschwinglichen Steuerüber-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/134>, abgerufen am 22.07.2024.