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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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des Staatsgefüges war. Durch den Septembervertrag wurde Italien von
der letzten fremdländischen Besatzung befreit und gleichzeitig der Schwerpunkt
der Monarchie aus der leitenden Provinz in die geographische Mitte des
Reichs verlegt. Aber eben diese Verlegung der Hauptstadt warf Piemont,
das bis dahin die Stärke des nationalen Staats gewesen war und allein
von allen Provinzen parlamentarische Erziehung besaß, in eine krankhafte,
unversöhnliche Opposition und isolute die Männer der Consorterie, den
eigentlichen Kern der Cavourschen Partei, während das Attentat Garibaldi's
auf Rom die unvermeidliche Folge hatte, das wichtigste Ergebniß des Sep¬
tembervertrags, die Räumung Roms, wieder rückgängig zu machen. Der
Krieg von 1866 vereinigte zwar Venetien mit dem Königreich, aber die
Art, wie der Krieg geführt worden war, das nicht unverschuldete Unglück
von Heer und Marine vereitelten zum großen Theil die Früchte der neuen
Erwerbung, sofern die Staatsgewalt nicht gestärkt, sondern geschwächt und
gedemüthigt aus dem Kriege hervorging. Das allgemeine Unbehagen warf
sich schließlich aus die verantwortlichen Leiter des Staats. Während es nun
galt, aufzubauen, wuchs umgekehrt die Lust am Demoliren. Die subversiven
Parteien streuten eine reiche Saat von Anklagen und Verdächtigungen aus.
Unter dem Schutz einer freisinnigen Gesetzgebung gewöhnte sich die Presse
an jenen negativen Ton, welcher doch nur eine Nachwirkung des Systems
der alten Regierungen war, denen gegenüber der Einzelne als geschworener
Feind sich sühlen durste. Selbst die Geheimbünde lebten in erneuter Stärke
wieder auf, die Justiz sah sich zur Ohnmacht verurtheilt, und die erhöhten
Anforderungen des Staats wurden als Mittel der Agitation benutzt, um
den Geist einer Bevölkerungen zu corrumpiren, deren Staatsgefühl erst noch
zu wecken war. Sank im Allgemeinen das Volk in Gleichgiltigkeit gegen
die öffentlichen Dinge zurück, so blieben nur jene zersetzenden Kräfte in Action
und es konnte nicht ausbleiben, daß sie sich allmälig auch des Parlaments
selbst bemächtigten, wo inzwischen durch die Streitsucht der Parteien die grö-
ßeren Gesetzgebungsarbeiten nicht über das Stadium von Projecten und
und Gegenprojecten hinauskamen.

Erkennbar waren die Symptome aller dieser Uebelstände, die später noch
ungleich schlimmer wurden, bereits damals, als Ricasoli am 13. Febr. 1867
sich entschloß, die im Jahre 1865 gewählte Kammer aufzulösen und an das
Land zu appelliren. Jene Kammer hatte einen auf Ideen Minghetti's be¬
ruhenden Entwurf über die Liquidation der Kirchengüter zurückgewiesen, der
die Befriedigung der finanziellen Bedürfnisse mit einer definitiven Regelung
der Beziehungen von Staat und Kirche auf der Grundlage gegenseitiger
Freiheit verbinden sollte. Allein dieser combinirte Plan der Minister Scia-
loja und Borghatti, welcher der Staatskasse binnen 4 Jahren 600 Mill. Fr.


des Staatsgefüges war. Durch den Septembervertrag wurde Italien von
der letzten fremdländischen Besatzung befreit und gleichzeitig der Schwerpunkt
der Monarchie aus der leitenden Provinz in die geographische Mitte des
Reichs verlegt. Aber eben diese Verlegung der Hauptstadt warf Piemont,
das bis dahin die Stärke des nationalen Staats gewesen war und allein
von allen Provinzen parlamentarische Erziehung besaß, in eine krankhafte,
unversöhnliche Opposition und isolute die Männer der Consorterie, den
eigentlichen Kern der Cavourschen Partei, während das Attentat Garibaldi's
auf Rom die unvermeidliche Folge hatte, das wichtigste Ergebniß des Sep¬
tembervertrags, die Räumung Roms, wieder rückgängig zu machen. Der
Krieg von 1866 vereinigte zwar Venetien mit dem Königreich, aber die
Art, wie der Krieg geführt worden war, das nicht unverschuldete Unglück
von Heer und Marine vereitelten zum großen Theil die Früchte der neuen
Erwerbung, sofern die Staatsgewalt nicht gestärkt, sondern geschwächt und
gedemüthigt aus dem Kriege hervorging. Das allgemeine Unbehagen warf
sich schließlich aus die verantwortlichen Leiter des Staats. Während es nun
galt, aufzubauen, wuchs umgekehrt die Lust am Demoliren. Die subversiven
Parteien streuten eine reiche Saat von Anklagen und Verdächtigungen aus.
Unter dem Schutz einer freisinnigen Gesetzgebung gewöhnte sich die Presse
an jenen negativen Ton, welcher doch nur eine Nachwirkung des Systems
der alten Regierungen war, denen gegenüber der Einzelne als geschworener
Feind sich sühlen durste. Selbst die Geheimbünde lebten in erneuter Stärke
wieder auf, die Justiz sah sich zur Ohnmacht verurtheilt, und die erhöhten
Anforderungen des Staats wurden als Mittel der Agitation benutzt, um
den Geist einer Bevölkerungen zu corrumpiren, deren Staatsgefühl erst noch
zu wecken war. Sank im Allgemeinen das Volk in Gleichgiltigkeit gegen
die öffentlichen Dinge zurück, so blieben nur jene zersetzenden Kräfte in Action
und es konnte nicht ausbleiben, daß sie sich allmälig auch des Parlaments
selbst bemächtigten, wo inzwischen durch die Streitsucht der Parteien die grö-
ßeren Gesetzgebungsarbeiten nicht über das Stadium von Projecten und
und Gegenprojecten hinauskamen.

Erkennbar waren die Symptome aller dieser Uebelstände, die später noch
ungleich schlimmer wurden, bereits damals, als Ricasoli am 13. Febr. 1867
sich entschloß, die im Jahre 1865 gewählte Kammer aufzulösen und an das
Land zu appelliren. Jene Kammer hatte einen auf Ideen Minghetti's be¬
ruhenden Entwurf über die Liquidation der Kirchengüter zurückgewiesen, der
die Befriedigung der finanziellen Bedürfnisse mit einer definitiven Regelung
der Beziehungen von Staat und Kirche auf der Grundlage gegenseitiger
Freiheit verbinden sollte. Allein dieser combinirte Plan der Minister Scia-
loja und Borghatti, welcher der Staatskasse binnen 4 Jahren 600 Mill. Fr.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/10>, abgerufen am 22.07.2024.