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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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ficht, hieß es, habe sich Coquerel eine Verfehlung zu Schulden kommen lassen,
gegenüber den Glaubenslehren der Kirche und gegenüber den Rechten des
Presbyterialraths. In ersterer Beziehung wurden zunächst fünf Stellen
aus Artikeln des "Lien" ausgezogen, wonach der Angeschuldigte z. B. ge¬
äußert hatte, daß er die Fragen der Dreieinigkeit, der Erbsünde, der Ver¬
söhnung, der Inspiration, der Autorität der Schrift und anderer sogenannter
Fundamentaldogmen nicht blos ein wenig, sondern ganz anders verstehe als
die Orthodoxen. Ueber die übernatürliche Geburt Jesu hatte er sich zwei¬
felnd ausgesprochen und sie für einen Punct von untergeordneter Wichtigkeit
erklärt, auch gegen die Anbetung Jesu, die nur Gott gebühre, sich erklärt.
Er hatte davon geredet, daß das Evangelium, die erhabenste Geschichte,
zugleich Spuren der Legende zeige, neben ewig Wahren zugleich das
Gepräge der Irrthümer der Zeit trage, in der es entstanden; endlich
war in einer Stelle angeführt, daß die göttliche Autorität nicht im
Buchstaben und nicht in den Denkmälern des Judenthums und Christenthums
wohne, sondern daß der göttliche Geist frei, machtvoll und ganz unabhängig
vom Buchstaben in den Herzen wirksam sei. Das war Alles, was aus sämmt¬
lichen Jahrgängen des "Linn" von dem Berichterstatter Ketzerisches aufge¬
spürt und zusammengetragen werden konnte.

Aber weiter. Im August 1863 hatte Coquerel eine eingehende Kritik von
Renans Leben Jesu im "L!en" veröffentlicht. Sie war in Form von Briefen
an Renan selbst geschrieben und trug die Aufschrift: "Lieber gelehrter Freund!"
Das war das erste Verbrechen. Schon diese Anrede bot Anlaß zu einer
Rüge, deren gehässiger Charakter erst dann in seinem vollen Licht erscheint,
wenn man die persönlichen Beziehungen der Familie Coquerel zu den Fa¬
milien Ary Scheffer und Renan kennt. Aber auch in der Kritik selbst wur¬
den die von dem Verfasser gemachten Ausstellungen und Einwendungen für
ungenügend, die dem Buch gespendeten Lobsprüche für anstößig erklärt. Die
Coquerel'sche Kritik ist durch Uebersetzung auch in Süddeutschland bekannt*)
geworden, es genügt daher, darauf zu verweisen. Man weiß, daß sie sich --
allerdings in maßvollster Form -- vom Standpunct des positiven Christenthums
aus durchgängig gegen Renan erklärt und die Ausstellungen des Gelehrten
überall an den Thatsachen des christlichen Bewußtseins mißt. Sie ging nicht
über das hinaus, was man selbst auf deutschen Kirchentagen hören konnte,
wie denn überhaupt Coquerel zu den gemäßigtsten Anhängern der neuen
Schule gehört. Weiter wurde ihm vorgeworfen ein Artikel im "Lien", worin
von eben dieser neuen Schule und ihren wissenschaftlichen Verdiensten mit zu
großem Lobe geredet und der Standpunct von Renan, Pe'caut, Scherer als
eine zu weitgehende aber begreifliche Reaction gegen das Christenthum der



') Zwei französische Stimmen über Renans Leben Jesu (Regensburg 1864).

ficht, hieß es, habe sich Coquerel eine Verfehlung zu Schulden kommen lassen,
gegenüber den Glaubenslehren der Kirche und gegenüber den Rechten des
Presbyterialraths. In ersterer Beziehung wurden zunächst fünf Stellen
aus Artikeln des „Lien" ausgezogen, wonach der Angeschuldigte z. B. ge¬
äußert hatte, daß er die Fragen der Dreieinigkeit, der Erbsünde, der Ver¬
söhnung, der Inspiration, der Autorität der Schrift und anderer sogenannter
Fundamentaldogmen nicht blos ein wenig, sondern ganz anders verstehe als
die Orthodoxen. Ueber die übernatürliche Geburt Jesu hatte er sich zwei¬
felnd ausgesprochen und sie für einen Punct von untergeordneter Wichtigkeit
erklärt, auch gegen die Anbetung Jesu, die nur Gott gebühre, sich erklärt.
Er hatte davon geredet, daß das Evangelium, die erhabenste Geschichte,
zugleich Spuren der Legende zeige, neben ewig Wahren zugleich das
Gepräge der Irrthümer der Zeit trage, in der es entstanden; endlich
war in einer Stelle angeführt, daß die göttliche Autorität nicht im
Buchstaben und nicht in den Denkmälern des Judenthums und Christenthums
wohne, sondern daß der göttliche Geist frei, machtvoll und ganz unabhängig
vom Buchstaben in den Herzen wirksam sei. Das war Alles, was aus sämmt¬
lichen Jahrgängen des „Linn" von dem Berichterstatter Ketzerisches aufge¬
spürt und zusammengetragen werden konnte.

Aber weiter. Im August 1863 hatte Coquerel eine eingehende Kritik von
Renans Leben Jesu im „L!en" veröffentlicht. Sie war in Form von Briefen
an Renan selbst geschrieben und trug die Aufschrift: „Lieber gelehrter Freund!"
Das war das erste Verbrechen. Schon diese Anrede bot Anlaß zu einer
Rüge, deren gehässiger Charakter erst dann in seinem vollen Licht erscheint,
wenn man die persönlichen Beziehungen der Familie Coquerel zu den Fa¬
milien Ary Scheffer und Renan kennt. Aber auch in der Kritik selbst wur¬
den die von dem Verfasser gemachten Ausstellungen und Einwendungen für
ungenügend, die dem Buch gespendeten Lobsprüche für anstößig erklärt. Die
Coquerel'sche Kritik ist durch Uebersetzung auch in Süddeutschland bekannt*)
geworden, es genügt daher, darauf zu verweisen. Man weiß, daß sie sich —
allerdings in maßvollster Form — vom Standpunct des positiven Christenthums
aus durchgängig gegen Renan erklärt und die Ausstellungen des Gelehrten
überall an den Thatsachen des christlichen Bewußtseins mißt. Sie ging nicht
über das hinaus, was man selbst auf deutschen Kirchentagen hören konnte,
wie denn überhaupt Coquerel zu den gemäßigtsten Anhängern der neuen
Schule gehört. Weiter wurde ihm vorgeworfen ein Artikel im „Lien", worin
von eben dieser neuen Schule und ihren wissenschaftlichen Verdiensten mit zu
großem Lobe geredet und der Standpunct von Renan, Pe'caut, Scherer als
eine zu weitgehende aber begreifliche Reaction gegen das Christenthum der



') Zwei französische Stimmen über Renans Leben Jesu (Regensburg 1864).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/95>, abgerufen am 05.02.2025.