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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Tode des Marschalls Niet führerlos gewordene Kriegspartei muß zunächst stille
halten und den Eintritt günstigerer Umstände abwarten -- von dem neuen
Kriegsminister, General Leboeuf, ist zunächst noch unbekannt, ob er mehr
als ein fähiger Techniker ist und ob er es auf die Rolle eines politischen
Parteihaupts absieht; daß er dem Kaiser durch seinen sterbenden Vorgänger
empfohlen worden, läßt allerdings auf Gesinnungsverwandtschaft beider
Männer schließen.

Bis zur Veröffentlichung der Senatsbeschlüsse wird die Zeit politischer
Ruhe auch in Frankreich fortdauern. Da die General-Räthe am 23. August
zusammen getreten sind und ein Theil der Senatoren denselben angehört, kann
es noch einige Wochen dauern, ehe die Arbeiten dieses Staatskörpers zum
Abschluß gebracht werden. Was wir bisher von den Verhandlungen des¬
selben wissen, bestätigt aufs Neue, daß diese Versammlung nur ein Abklatsch
der in der Regierung herrschenden Stimmungen und ohne jede Spur innerer
Selbständigkeit ist. Die Ansichten seiner Majorität haben sich mit der Wetter¬
fahne gewandt. Wenn man sich die Feindseligkeit vergegenwärtigt, mit
welcher noch vor Jahresfrist die nichts weniger als freisinnigen Gesetze über
Preßfreiheit und Versammlungsrecht von den Vätern des französischen Volks
aufgenommen wurden, so will man bei Betrachtung der neuesten Vorgänge
kaum seinen Augen trauen. Nicht nur, daß die Majorität sich sofort auf
den neuen Standpunkt der Regierung gestellt und die Nothwendigkeit von
Reformen anerkannt hat, die sie damals als Anfang vom Ende bekämpfen zu
müssen behauptete -- im französischen Senat hat sich eine liberale Partei ge¬
bildet, welche über das Regierungsprogramm und Rouher's Stellung zu dem¬
selben hinausgeht und Opposition spielt. Die Bonjeanschen Amendements,
welche ziemlich direct auf eine rein parlamentarische Regierung hinarbeiten,
haben eine gewisse Unterstützung erhalten und wenn auch an ihre Annahme nicht
zu denken ist, so steht doch schon ihre Entstehung in so merkwürdigem Gegen¬
satz zu der bisherigen furchtsamen Kleinlichkeit der Mei-es oonseripti, daß sie
wohl für ein Zeichen der Zeit gelten können. Die liberale Pariser Presse hat ihre
Befürchtungen vor Verstümmelung der kaiserlichen Vorschläge durch den Senat
bereits zurückgenommen und diese Verfassungsänderungen werden voraussichtlich
in der Gestalt an das Tageslicht gefördert werden, auf welche die Regierung es
abgesehen hatte. -- An die Verhandlungen der Departements-Räthe, zu denen
sechs Minister und zahlreiche Senatoren bereits abgereist sind, knüpfen sich
liberale Hoffnungen auf Vorschläge zur Decentralisation und Herstellung
größerer Gemeindefreiheit; auch soll gegen jenen berüchtigten Artikel 75 der
Verfassung vom Jahre VIII. Sturm gelaufen werden, der die gerichtliche Ver¬
folgung excedirender Beamter von der Zustimmung des Staatsraths abhängig


Tode des Marschalls Niet führerlos gewordene Kriegspartei muß zunächst stille
halten und den Eintritt günstigerer Umstände abwarten — von dem neuen
Kriegsminister, General Leboeuf, ist zunächst noch unbekannt, ob er mehr
als ein fähiger Techniker ist und ob er es auf die Rolle eines politischen
Parteihaupts absieht; daß er dem Kaiser durch seinen sterbenden Vorgänger
empfohlen worden, läßt allerdings auf Gesinnungsverwandtschaft beider
Männer schließen.

Bis zur Veröffentlichung der Senatsbeschlüsse wird die Zeit politischer
Ruhe auch in Frankreich fortdauern. Da die General-Räthe am 23. August
zusammen getreten sind und ein Theil der Senatoren denselben angehört, kann
es noch einige Wochen dauern, ehe die Arbeiten dieses Staatskörpers zum
Abschluß gebracht werden. Was wir bisher von den Verhandlungen des¬
selben wissen, bestätigt aufs Neue, daß diese Versammlung nur ein Abklatsch
der in der Regierung herrschenden Stimmungen und ohne jede Spur innerer
Selbständigkeit ist. Die Ansichten seiner Majorität haben sich mit der Wetter¬
fahne gewandt. Wenn man sich die Feindseligkeit vergegenwärtigt, mit
welcher noch vor Jahresfrist die nichts weniger als freisinnigen Gesetze über
Preßfreiheit und Versammlungsrecht von den Vätern des französischen Volks
aufgenommen wurden, so will man bei Betrachtung der neuesten Vorgänge
kaum seinen Augen trauen. Nicht nur, daß die Majorität sich sofort auf
den neuen Standpunkt der Regierung gestellt und die Nothwendigkeit von
Reformen anerkannt hat, die sie damals als Anfang vom Ende bekämpfen zu
müssen behauptete — im französischen Senat hat sich eine liberale Partei ge¬
bildet, welche über das Regierungsprogramm und Rouher's Stellung zu dem¬
selben hinausgeht und Opposition spielt. Die Bonjeanschen Amendements,
welche ziemlich direct auf eine rein parlamentarische Regierung hinarbeiten,
haben eine gewisse Unterstützung erhalten und wenn auch an ihre Annahme nicht
zu denken ist, so steht doch schon ihre Entstehung in so merkwürdigem Gegen¬
satz zu der bisherigen furchtsamen Kleinlichkeit der Mei-es oonseripti, daß sie
wohl für ein Zeichen der Zeit gelten können. Die liberale Pariser Presse hat ihre
Befürchtungen vor Verstümmelung der kaiserlichen Vorschläge durch den Senat
bereits zurückgenommen und diese Verfassungsänderungen werden voraussichtlich
in der Gestalt an das Tageslicht gefördert werden, auf welche die Regierung es
abgesehen hatte. — An die Verhandlungen der Departements-Räthe, zu denen
sechs Minister und zahlreiche Senatoren bereits abgereist sind, knüpfen sich
liberale Hoffnungen auf Vorschläge zur Decentralisation und Herstellung
größerer Gemeindefreiheit; auch soll gegen jenen berüchtigten Artikel 75 der
Verfassung vom Jahre VIII. Sturm gelaufen werden, der die gerichtliche Ver¬
folgung excedirender Beamter von der Zustimmung des Staatsraths abhängig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/364>, abgerufen am 25.08.2024.