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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Wesens beim Volke gefunden, der Sinn für höhere Dinge wie erstorben war.
Auch gegenüber der Ausschließlichkeit des Systems gegen alle Andersdenkenden
griff die siegende Opposition zu derselben Waffe: sie schloß auch ihrerseits alle
diejenigen aus dem Verfassungsrathe aus, welche mit dem System in irgend
einer Verbindung gestanden hatten. Unter dem Einfluß der ersten Auf¬
regung gingen die Wähler weit über das ursprüngliche Ziel hinaus. Wäre
die Versammlung einige Monate später gewählt worden, so wären die Wah¬
len ohne Zweifel wesentlich anders ausgefallen. Jetzt aber fanden nur sehr
wenige Mitglieder des Cantonsraths Gnade und die Wahlen fielen auf viele
Männer, welche nicht nur Komines novi waren, sondern auch einer gesell¬
schaftlichen Schicht angehörten, die den Massen schon viel näher stand. In¬
dessen brachte dieser neue Zuwachs weder neue Capacitäten ans Licht, noch
wurde die Bewegungspartei erheblich durch denselben verstärkt. Unter der
Zahl der Führer fanden sich einige fähige und ehrenwerthe Männer, die sich
aber unglücklicherweise mit anderen verbanden, die -- ob mit Recht oder Un¬
recht -- beim Publicum nur geringes Vertrauen einflößten. Einige Mit¬
glieder von Lande zeichneten sich bei den'.Verhandlungen, namentlich über
specielle Punkte, wie das Volksschulwesen, wirklich aus. Eigentlich politische
Charactere jedoch, die sich für Regierungsstellen geeignet hätten, machten sich
bis dahin nicht bemerkbar.

Was nun die an der Verfassung vorgenommen Veränderungen betrifft,
so müssen wir wenigstens der bedeutendsten gedenken. Anlangend die Grund¬
rechte der Bürger wurde vollständige, bisher namentlich in Bezug auf ge¬
wisse Vorrechte der Beamten noch nicht bestehende Preßfreiheit eingeführt.
Bei Jnjurienprocessen kann der Beklagte künftig den Beweis der Wahrheit
antreten und muß freigesprochen werden, "wenn das als ehrenrührig Einge¬
klagte wahr ist und mit redlichen Motiven und rechtlichen Endzwecken ver¬
öffentlicht und verbreitet wurde." (§. 3.) Die Strafarten beim Crinn'nal-
verfahren werden gemildert. "Das Strafrecht", sagt §. 8, "ist nach huma¬
nen Grundsätzen zu gestalten. Die Anwendung der Todesstrafe und der
Kettenstrafe ist unzulässig." "Dem wegen eines Vergehens oder Verbrechens
Angeschuldigten, sowie dem Geschädigten ist Gelegenheit zu geben, allen Ver¬
handlungen, welche vor dem Untersuchungsrichter stattfinden, beizuwohnen,
einen Rechtsbeistand zuzuziehen und an die Zeugen Fragen zu richten, welche
zur Aufklärung der Sache dienen können" (§. 6). "Ungesetzlich Verhafteten
ist vom Staat angemessene Entschädigung oder Genugthuung zu leisten.
Zur Erzielung eines Geständnisses dürfen keinerlei Zwangsmittel angewendet
werden" (§. 7). "Jeder Beamte ist nach Maßgabe der Gesetze sowohl dem
Staate und den Gemeinden, als den Privaten für seine Verrichtungen
verantwortlich" (Z. 10). Die Civilehe wurde nur facultative eingeführt (K. 1ö). ,


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Wesens beim Volke gefunden, der Sinn für höhere Dinge wie erstorben war.
Auch gegenüber der Ausschließlichkeit des Systems gegen alle Andersdenkenden
griff die siegende Opposition zu derselben Waffe: sie schloß auch ihrerseits alle
diejenigen aus dem Verfassungsrathe aus, welche mit dem System in irgend
einer Verbindung gestanden hatten. Unter dem Einfluß der ersten Auf¬
regung gingen die Wähler weit über das ursprüngliche Ziel hinaus. Wäre
die Versammlung einige Monate später gewählt worden, so wären die Wah¬
len ohne Zweifel wesentlich anders ausgefallen. Jetzt aber fanden nur sehr
wenige Mitglieder des Cantonsraths Gnade und die Wahlen fielen auf viele
Männer, welche nicht nur Komines novi waren, sondern auch einer gesell¬
schaftlichen Schicht angehörten, die den Massen schon viel näher stand. In¬
dessen brachte dieser neue Zuwachs weder neue Capacitäten ans Licht, noch
wurde die Bewegungspartei erheblich durch denselben verstärkt. Unter der
Zahl der Führer fanden sich einige fähige und ehrenwerthe Männer, die sich
aber unglücklicherweise mit anderen verbanden, die — ob mit Recht oder Un¬
recht — beim Publicum nur geringes Vertrauen einflößten. Einige Mit¬
glieder von Lande zeichneten sich bei den'.Verhandlungen, namentlich über
specielle Punkte, wie das Volksschulwesen, wirklich aus. Eigentlich politische
Charactere jedoch, die sich für Regierungsstellen geeignet hätten, machten sich
bis dahin nicht bemerkbar.

Was nun die an der Verfassung vorgenommen Veränderungen betrifft,
so müssen wir wenigstens der bedeutendsten gedenken. Anlangend die Grund¬
rechte der Bürger wurde vollständige, bisher namentlich in Bezug auf ge¬
wisse Vorrechte der Beamten noch nicht bestehende Preßfreiheit eingeführt.
Bei Jnjurienprocessen kann der Beklagte künftig den Beweis der Wahrheit
antreten und muß freigesprochen werden, „wenn das als ehrenrührig Einge¬
klagte wahr ist und mit redlichen Motiven und rechtlichen Endzwecken ver¬
öffentlicht und verbreitet wurde." (§. 3.) Die Strafarten beim Crinn'nal-
verfahren werden gemildert. „Das Strafrecht", sagt §. 8, „ist nach huma¬
nen Grundsätzen zu gestalten. Die Anwendung der Todesstrafe und der
Kettenstrafe ist unzulässig." „Dem wegen eines Vergehens oder Verbrechens
Angeschuldigten, sowie dem Geschädigten ist Gelegenheit zu geben, allen Ver¬
handlungen, welche vor dem Untersuchungsrichter stattfinden, beizuwohnen,
einen Rechtsbeistand zuzuziehen und an die Zeugen Fragen zu richten, welche
zur Aufklärung der Sache dienen können" (§. 6). „Ungesetzlich Verhafteten
ist vom Staat angemessene Entschädigung oder Genugthuung zu leisten.
Zur Erzielung eines Geständnisses dürfen keinerlei Zwangsmittel angewendet
werden" (§. 7). „Jeder Beamte ist nach Maßgabe der Gesetze sowohl dem
Staate und den Gemeinden, als den Privaten für seine Verrichtungen
verantwortlich" (Z. 10). Die Civilehe wurde nur facultative eingeführt (K. 1ö). ,


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[0259] Wesens beim Volke gefunden, der Sinn für höhere Dinge wie erstorben war. Auch gegenüber der Ausschließlichkeit des Systems gegen alle Andersdenkenden griff die siegende Opposition zu derselben Waffe: sie schloß auch ihrerseits alle diejenigen aus dem Verfassungsrathe aus, welche mit dem System in irgend einer Verbindung gestanden hatten. Unter dem Einfluß der ersten Auf¬ regung gingen die Wähler weit über das ursprüngliche Ziel hinaus. Wäre die Versammlung einige Monate später gewählt worden, so wären die Wah¬ len ohne Zweifel wesentlich anders ausgefallen. Jetzt aber fanden nur sehr wenige Mitglieder des Cantonsraths Gnade und die Wahlen fielen auf viele Männer, welche nicht nur Komines novi waren, sondern auch einer gesell¬ schaftlichen Schicht angehörten, die den Massen schon viel näher stand. In¬ dessen brachte dieser neue Zuwachs weder neue Capacitäten ans Licht, noch wurde die Bewegungspartei erheblich durch denselben verstärkt. Unter der Zahl der Führer fanden sich einige fähige und ehrenwerthe Männer, die sich aber unglücklicherweise mit anderen verbanden, die — ob mit Recht oder Un¬ recht — beim Publicum nur geringes Vertrauen einflößten. Einige Mit¬ glieder von Lande zeichneten sich bei den'.Verhandlungen, namentlich über specielle Punkte, wie das Volksschulwesen, wirklich aus. Eigentlich politische Charactere jedoch, die sich für Regierungsstellen geeignet hätten, machten sich bis dahin nicht bemerkbar. Was nun die an der Verfassung vorgenommen Veränderungen betrifft, so müssen wir wenigstens der bedeutendsten gedenken. Anlangend die Grund¬ rechte der Bürger wurde vollständige, bisher namentlich in Bezug auf ge¬ wisse Vorrechte der Beamten noch nicht bestehende Preßfreiheit eingeführt. Bei Jnjurienprocessen kann der Beklagte künftig den Beweis der Wahrheit antreten und muß freigesprochen werden, „wenn das als ehrenrührig Einge¬ klagte wahr ist und mit redlichen Motiven und rechtlichen Endzwecken ver¬ öffentlicht und verbreitet wurde." (§. 3.) Die Strafarten beim Crinn'nal- verfahren werden gemildert. „Das Strafrecht", sagt §. 8, „ist nach huma¬ nen Grundsätzen zu gestalten. Die Anwendung der Todesstrafe und der Kettenstrafe ist unzulässig." „Dem wegen eines Vergehens oder Verbrechens Angeschuldigten, sowie dem Geschädigten ist Gelegenheit zu geben, allen Ver¬ handlungen, welche vor dem Untersuchungsrichter stattfinden, beizuwohnen, einen Rechtsbeistand zuzuziehen und an die Zeugen Fragen zu richten, welche zur Aufklärung der Sache dienen können" (§. 6). „Ungesetzlich Verhafteten ist vom Staat angemessene Entschädigung oder Genugthuung zu leisten. Zur Erzielung eines Geständnisses dürfen keinerlei Zwangsmittel angewendet werden" (§. 7). „Jeder Beamte ist nach Maßgabe der Gesetze sowohl dem Staate und den Gemeinden, als den Privaten für seine Verrichtungen verantwortlich" (Z. 10). Die Civilehe wurde nur facultative eingeführt (K. 1ö). , 32*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/259>, abgerufen am 25.08.2024.