Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

liebe Sicherheit auf weitere Verfolgung Locher's mit seinen 21 Injurien-
Processen, was neuerdings eine ungeheure Sensation erregte.

Blicken wir nun einen Augenblick rückwärts. Trotz der gewiß berechtigten
Bewegung gegen das "System" dürfen dieses und sein eigentlicher Träger,
Escher, nicht zu streng beurtheilt werden. Escher scheint das Ideal der eng¬
lischen, sogenannten Manchester-Schule zum seinigen gemacht zu haben. Prak¬
tische Befähigung in der Verwaltung der großen industriellen und Handels¬
interessen war das, was er von den Mitgliedern einer Regierung zunächst
verlangte. In dieser Richtung war die Züricher Verwaltung gut, wenn
auch etwas bureaukratisch, die Finanzverwaltung sogar sehr gut. Auch in
der Legislatur war eine Menge von Reformen ohne viel Geräusch durch¬
geführt worden, so daß sich hier das System entschieden als fortschrittlich
erwiesen hat. Bei alledem war aber die Theilnahme des Volkes an den
öffentlichen Angelegenheiten erlahmt. Es war durch keine großen politischen
Ideen mehr unter sich verbunden; der eigentliche Nationalgeist hatte all-
mälig dem Cultus der wohlabgewogenen Interessen des Privatlebens den
Platz geräumt. Die vage Empfindung von der Bedrohung des innersten
Nationallebens war es, welche den Locher'schen Enthüllungen ihre Gewalt
über die Massen gegeben. Aber weiter ging die Wirkung zunächst nicht und
bei den Pamphleten konnte man doch nicht stehen bleiben. Das Volk wußte
nur, was es nicht wollte und nachdem es dies durch seinen Beschluß über
die Verfassungsrevision ausgesprochen, sah es sich plötzlich ohne Anleitung für
weitere Wege. Es fand sich Niemand, der ihm seine geheimen Wünsche und
Gefühle gedeutet hätte und darum zerstreute sich die Action von da an in
alle möglichen Richtungen. An die Stelle einer echt nationalen Erhebung,
die im Keime vorhanden, trat die Gefahr einer verfehlten Krise. Eine Haupt¬
ursache dieser Erscheinung mochte in dem Mangel einer organisirten und
kräftigen Opposition liegen. Das System liebte die Opposition überhaupt
nicht und die Folge war, daß das ächte Repräsentativsystem von ihm mi߬
braucht ward und selbst bei der Gegenpartei in Mißachtung fiel, wie sich
bald zeigen sollte.

So gewaltig auch die Energie war, mit der sich die Volksabstimmung
für die Verfassungsrevision ausgesprochen, so darf doch vielleicht behauptet
werden, daß dieser Beschluß nicht von einem allgemeinen Wunsche getragen
war. Die Verfassung war durchaus nicht schlecht. Sie war im Laufe eines
Menschenaltxrs mehr und mehr in einzelnen Theilen geräuschlos verbessert
worden und was jetzt fehlte, hätte ganz gut auf dem Wege der partiellen oder
legislatorischen Revision erreicht werden können. Was das Volk in seiner
Mehrheit ursprünglich wollre, war zunächst der Sturz des Systems, d. h.
die Aenderung des Geistes und des Personals der obersten Behörden. Die


Grenzboten III. 186". 32

liebe Sicherheit auf weitere Verfolgung Locher's mit seinen 21 Injurien-
Processen, was neuerdings eine ungeheure Sensation erregte.

Blicken wir nun einen Augenblick rückwärts. Trotz der gewiß berechtigten
Bewegung gegen das „System" dürfen dieses und sein eigentlicher Träger,
Escher, nicht zu streng beurtheilt werden. Escher scheint das Ideal der eng¬
lischen, sogenannten Manchester-Schule zum seinigen gemacht zu haben. Prak¬
tische Befähigung in der Verwaltung der großen industriellen und Handels¬
interessen war das, was er von den Mitgliedern einer Regierung zunächst
verlangte. In dieser Richtung war die Züricher Verwaltung gut, wenn
auch etwas bureaukratisch, die Finanzverwaltung sogar sehr gut. Auch in
der Legislatur war eine Menge von Reformen ohne viel Geräusch durch¬
geführt worden, so daß sich hier das System entschieden als fortschrittlich
erwiesen hat. Bei alledem war aber die Theilnahme des Volkes an den
öffentlichen Angelegenheiten erlahmt. Es war durch keine großen politischen
Ideen mehr unter sich verbunden; der eigentliche Nationalgeist hatte all-
mälig dem Cultus der wohlabgewogenen Interessen des Privatlebens den
Platz geräumt. Die vage Empfindung von der Bedrohung des innersten
Nationallebens war es, welche den Locher'schen Enthüllungen ihre Gewalt
über die Massen gegeben. Aber weiter ging die Wirkung zunächst nicht und
bei den Pamphleten konnte man doch nicht stehen bleiben. Das Volk wußte
nur, was es nicht wollte und nachdem es dies durch seinen Beschluß über
die Verfassungsrevision ausgesprochen, sah es sich plötzlich ohne Anleitung für
weitere Wege. Es fand sich Niemand, der ihm seine geheimen Wünsche und
Gefühle gedeutet hätte und darum zerstreute sich die Action von da an in
alle möglichen Richtungen. An die Stelle einer echt nationalen Erhebung,
die im Keime vorhanden, trat die Gefahr einer verfehlten Krise. Eine Haupt¬
ursache dieser Erscheinung mochte in dem Mangel einer organisirten und
kräftigen Opposition liegen. Das System liebte die Opposition überhaupt
nicht und die Folge war, daß das ächte Repräsentativsystem von ihm mi߬
braucht ward und selbst bei der Gegenpartei in Mißachtung fiel, wie sich
bald zeigen sollte.

So gewaltig auch die Energie war, mit der sich die Volksabstimmung
für die Verfassungsrevision ausgesprochen, so darf doch vielleicht behauptet
werden, daß dieser Beschluß nicht von einem allgemeinen Wunsche getragen
war. Die Verfassung war durchaus nicht schlecht. Sie war im Laufe eines
Menschenaltxrs mehr und mehr in einzelnen Theilen geräuschlos verbessert
worden und was jetzt fehlte, hätte ganz gut auf dem Wege der partiellen oder
legislatorischen Revision erreicht werden können. Was das Volk in seiner
Mehrheit ursprünglich wollre, war zunächst der Sturz des Systems, d. h.
die Aenderung des Geistes und des Personals der obersten Behörden. Die


Grenzboten III. 186». 32
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0257" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/121478"/>
            <p xml:id="ID_851" prev="#ID_850"> liebe Sicherheit auf weitere Verfolgung Locher's mit seinen 21 Injurien-<lb/>
Processen, was neuerdings eine ungeheure Sensation erregte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_852"> Blicken wir nun einen Augenblick rückwärts. Trotz der gewiß berechtigten<lb/>
Bewegung gegen das &#x201E;System" dürfen dieses und sein eigentlicher Träger,<lb/>
Escher, nicht zu streng beurtheilt werden. Escher scheint das Ideal der eng¬<lb/>
lischen, sogenannten Manchester-Schule zum seinigen gemacht zu haben. Prak¬<lb/>
tische Befähigung in der Verwaltung der großen industriellen und Handels¬<lb/>
interessen war das, was er von den Mitgliedern einer Regierung zunächst<lb/>
verlangte. In dieser Richtung war die Züricher Verwaltung gut, wenn<lb/>
auch etwas bureaukratisch, die Finanzverwaltung sogar sehr gut. Auch in<lb/>
der Legislatur war eine Menge von Reformen ohne viel Geräusch durch¬<lb/>
geführt worden, so daß sich hier das System entschieden als fortschrittlich<lb/>
erwiesen hat. Bei alledem war aber die Theilnahme des Volkes an den<lb/>
öffentlichen Angelegenheiten erlahmt. Es war durch keine großen politischen<lb/>
Ideen mehr unter sich verbunden; der eigentliche Nationalgeist hatte all-<lb/>
mälig dem Cultus der wohlabgewogenen Interessen des Privatlebens den<lb/>
Platz geräumt. Die vage Empfindung von der Bedrohung des innersten<lb/>
Nationallebens war es, welche den Locher'schen Enthüllungen ihre Gewalt<lb/>
über die Massen gegeben. Aber weiter ging die Wirkung zunächst nicht und<lb/>
bei den Pamphleten konnte man doch nicht stehen bleiben. Das Volk wußte<lb/>
nur, was es nicht wollte und nachdem es dies durch seinen Beschluß über<lb/>
die Verfassungsrevision ausgesprochen, sah es sich plötzlich ohne Anleitung für<lb/>
weitere Wege. Es fand sich Niemand, der ihm seine geheimen Wünsche und<lb/>
Gefühle gedeutet hätte und darum zerstreute sich die Action von da an in<lb/>
alle möglichen Richtungen. An die Stelle einer echt nationalen Erhebung,<lb/>
die im Keime vorhanden, trat die Gefahr einer verfehlten Krise. Eine Haupt¬<lb/>
ursache dieser Erscheinung mochte in dem Mangel einer organisirten und<lb/>
kräftigen Opposition liegen. Das System liebte die Opposition überhaupt<lb/>
nicht und die Folge war, daß das ächte Repräsentativsystem von ihm mi߬<lb/>
braucht ward und selbst bei der Gegenpartei in Mißachtung fiel, wie sich<lb/>
bald zeigen sollte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_853" next="#ID_854"> So gewaltig auch die Energie war, mit der sich die Volksabstimmung<lb/>
für die Verfassungsrevision ausgesprochen, so darf doch vielleicht behauptet<lb/>
werden, daß dieser Beschluß nicht von einem allgemeinen Wunsche getragen<lb/>
war. Die Verfassung war durchaus nicht schlecht. Sie war im Laufe eines<lb/>
Menschenaltxrs mehr und mehr in einzelnen Theilen geräuschlos verbessert<lb/>
worden und was jetzt fehlte, hätte ganz gut auf dem Wege der partiellen oder<lb/>
legislatorischen Revision erreicht werden können. Was das Volk in seiner<lb/>
Mehrheit ursprünglich wollre, war zunächst der Sturz des Systems, d. h.<lb/>
die Aenderung des Geistes und des Personals der obersten Behörden. Die</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 186». 32</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0257] liebe Sicherheit auf weitere Verfolgung Locher's mit seinen 21 Injurien- Processen, was neuerdings eine ungeheure Sensation erregte. Blicken wir nun einen Augenblick rückwärts. Trotz der gewiß berechtigten Bewegung gegen das „System" dürfen dieses und sein eigentlicher Träger, Escher, nicht zu streng beurtheilt werden. Escher scheint das Ideal der eng¬ lischen, sogenannten Manchester-Schule zum seinigen gemacht zu haben. Prak¬ tische Befähigung in der Verwaltung der großen industriellen und Handels¬ interessen war das, was er von den Mitgliedern einer Regierung zunächst verlangte. In dieser Richtung war die Züricher Verwaltung gut, wenn auch etwas bureaukratisch, die Finanzverwaltung sogar sehr gut. Auch in der Legislatur war eine Menge von Reformen ohne viel Geräusch durch¬ geführt worden, so daß sich hier das System entschieden als fortschrittlich erwiesen hat. Bei alledem war aber die Theilnahme des Volkes an den öffentlichen Angelegenheiten erlahmt. Es war durch keine großen politischen Ideen mehr unter sich verbunden; der eigentliche Nationalgeist hatte all- mälig dem Cultus der wohlabgewogenen Interessen des Privatlebens den Platz geräumt. Die vage Empfindung von der Bedrohung des innersten Nationallebens war es, welche den Locher'schen Enthüllungen ihre Gewalt über die Massen gegeben. Aber weiter ging die Wirkung zunächst nicht und bei den Pamphleten konnte man doch nicht stehen bleiben. Das Volk wußte nur, was es nicht wollte und nachdem es dies durch seinen Beschluß über die Verfassungsrevision ausgesprochen, sah es sich plötzlich ohne Anleitung für weitere Wege. Es fand sich Niemand, der ihm seine geheimen Wünsche und Gefühle gedeutet hätte und darum zerstreute sich die Action von da an in alle möglichen Richtungen. An die Stelle einer echt nationalen Erhebung, die im Keime vorhanden, trat die Gefahr einer verfehlten Krise. Eine Haupt¬ ursache dieser Erscheinung mochte in dem Mangel einer organisirten und kräftigen Opposition liegen. Das System liebte die Opposition überhaupt nicht und die Folge war, daß das ächte Repräsentativsystem von ihm mi߬ braucht ward und selbst bei der Gegenpartei in Mißachtung fiel, wie sich bald zeigen sollte. So gewaltig auch die Energie war, mit der sich die Volksabstimmung für die Verfassungsrevision ausgesprochen, so darf doch vielleicht behauptet werden, daß dieser Beschluß nicht von einem allgemeinen Wunsche getragen war. Die Verfassung war durchaus nicht schlecht. Sie war im Laufe eines Menschenaltxrs mehr und mehr in einzelnen Theilen geräuschlos verbessert worden und was jetzt fehlte, hätte ganz gut auf dem Wege der partiellen oder legislatorischen Revision erreicht werden können. Was das Volk in seiner Mehrheit ursprünglich wollre, war zunächst der Sturz des Systems, d. h. die Aenderung des Geistes und des Personals der obersten Behörden. Die Grenzboten III. 186». 32

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/257
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/257>, abgerufen am 25.08.2024.