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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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fassung reicht und ebenso sein Urtheil über die Gestalt, welche letztere in diesem
ersten Entwurf erhalten hatte, so haben sie für uns nur noch ein historisches
Interesse. Wir folgen ihm daher nur in soweit, als der Verfassungsentwurf
durch die die zweite Berathung nicht verändert worden ist.

Wer sich noch erinnert, mit wie allgemeinem Erstaunen man in der
Schweiz im Jahre 1867 von der plötzlich zu Tage tretenden Volksbewegung
im Canton Zürich hörte, welcher bisher nach einer sehr verbreiteten Ansicht
für einen der bestregierten und glücklichsten der Schweiz galt und der seit
mehr als 20 Jahren von derselben Regierung geleitet worden, ja wo erst
noch ein halbes Jahr vorher eine vollständige Erneuerung des gesetzgebenden
Rathes stattgefunden und wer da weiß, daß diese Bewegung der Ausgangs¬
punkt einer neuen Richtung in der schweizerischen Politik geworden, der wird
wohl die Nothwendigkeit einsehen, etwas weiter rückwärts in die Geschichte
dieses Cantons blicken zu müssen, um sich das Wesen und die Bedeutung so¬
wohl jener Bewegung selbst, als deren örtlicher und zeitlicher Fortsetzung in
der übrigen Schweiz klar zu machen.
'

Die Bewegungdatirt schon von 1830 her. Sie ist in mancher Beziehung
nur die weitere Entwickelung der friedlichen Revolution, welche damals, als
die Landschaft Zürich von der bisher allein herrschenden Hauptstadt ihren
Antheil an der Regierung forderte und ohne große Schwierigkeit auch er¬
hielt, die neue Verfassung zur Folge hatte. Das nun eingeführte, von dem
später nach Berlin übergesiedelten und dort verstorbenen ausgezeichneten
Rechtsgelehrten Dr. Friedrich Keller geleitete liberale System eröffnete für
den Canton eine der glänzendsten Perioden seiner Entwickelung. Freiheit
und Fortschritt waren überall die Losung und Zürich ging einer Reihe von
anderen Cantonen, welche Anfangs der dreißiger Jahre ebenfalls ihre Ver¬
fassungen veränderten, durch hervorragende Leistungen auf den verschiedensten
Gebieten des öffentlichen Lebens kühn voran. Nur waren die Fortschritte
etwas zu rasch und von zu wenig Rücksichtnahme auf die bestehenden Ver¬
hältnisse begleitet.

Besonders zeigte sich diese Rücksichtslosigkeit in Sachen der Religion.
Seit längerer Zeit schon war davon die Rede gewesen, den Dr. Strauß, den
bekannten Verfasser des "Lebens Jesu", als Professor der Theologie an die
Hochschule zu berufen. Im Jahre 1839 glaubte man sich endlich über die
bisher gehegten Befürchtungen in Betreff der sich in weiteren Kreisen des
Volkes geltend machenden Abneigung gegen eine solche Berufung hinweg¬
setzen zu können. Strauß wurde berufen. Da erhob sich das Volk. Die
Regierung wurde zur förmlichen Zurücknahme der Berufung und zugleich zu
einer gründlichen Reform des von rationalistischen Grundsätzen geleiteten
Volksschulwesens gezwungen. Die Achtung der Regierung war von jetzt an


fassung reicht und ebenso sein Urtheil über die Gestalt, welche letztere in diesem
ersten Entwurf erhalten hatte, so haben sie für uns nur noch ein historisches
Interesse. Wir folgen ihm daher nur in soweit, als der Verfassungsentwurf
durch die die zweite Berathung nicht verändert worden ist.

Wer sich noch erinnert, mit wie allgemeinem Erstaunen man in der
Schweiz im Jahre 1867 von der plötzlich zu Tage tretenden Volksbewegung
im Canton Zürich hörte, welcher bisher nach einer sehr verbreiteten Ansicht
für einen der bestregierten und glücklichsten der Schweiz galt und der seit
mehr als 20 Jahren von derselben Regierung geleitet worden, ja wo erst
noch ein halbes Jahr vorher eine vollständige Erneuerung des gesetzgebenden
Rathes stattgefunden und wer da weiß, daß diese Bewegung der Ausgangs¬
punkt einer neuen Richtung in der schweizerischen Politik geworden, der wird
wohl die Nothwendigkeit einsehen, etwas weiter rückwärts in die Geschichte
dieses Cantons blicken zu müssen, um sich das Wesen und die Bedeutung so¬
wohl jener Bewegung selbst, als deren örtlicher und zeitlicher Fortsetzung in
der übrigen Schweiz klar zu machen.
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Die Bewegungdatirt schon von 1830 her. Sie ist in mancher Beziehung
nur die weitere Entwickelung der friedlichen Revolution, welche damals, als
die Landschaft Zürich von der bisher allein herrschenden Hauptstadt ihren
Antheil an der Regierung forderte und ohne große Schwierigkeit auch er¬
hielt, die neue Verfassung zur Folge hatte. Das nun eingeführte, von dem
später nach Berlin übergesiedelten und dort verstorbenen ausgezeichneten
Rechtsgelehrten Dr. Friedrich Keller geleitete liberale System eröffnete für
den Canton eine der glänzendsten Perioden seiner Entwickelung. Freiheit
und Fortschritt waren überall die Losung und Zürich ging einer Reihe von
anderen Cantonen, welche Anfangs der dreißiger Jahre ebenfalls ihre Ver¬
fassungen veränderten, durch hervorragende Leistungen auf den verschiedensten
Gebieten des öffentlichen Lebens kühn voran. Nur waren die Fortschritte
etwas zu rasch und von zu wenig Rücksichtnahme auf die bestehenden Ver¬
hältnisse begleitet.

Besonders zeigte sich diese Rücksichtslosigkeit in Sachen der Religion.
Seit längerer Zeit schon war davon die Rede gewesen, den Dr. Strauß, den
bekannten Verfasser des „Lebens Jesu", als Professor der Theologie an die
Hochschule zu berufen. Im Jahre 1839 glaubte man sich endlich über die
bisher gehegten Befürchtungen in Betreff der sich in weiteren Kreisen des
Volkes geltend machenden Abneigung gegen eine solche Berufung hinweg¬
setzen zu können. Strauß wurde berufen. Da erhob sich das Volk. Die
Regierung wurde zur förmlichen Zurücknahme der Berufung und zugleich zu
einer gründlichen Reform des von rationalistischen Grundsätzen geleiteten
Volksschulwesens gezwungen. Die Achtung der Regierung war von jetzt an


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/250>, abgerufen am 24.08.2024.