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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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Die synchronistische Darstellung des Buchs erweist sich schon auf dem
Gebiete der Mysterienliteratur, wo der Einfluß der verschiedenen Nationen
aus einander deutlich hervortritt, als die richtige. Wie irrig es für die späteren
Zeiträume ist, die Geschichte des Dramas in Monographien zu zerlegen,
welche die Nationen getrennt behandeln, ist von anderer Seite schon klar
genug nachgewiesen worden. Doch können wir nicht sagen, daß wir in der
Zerstückelung des Stoffs nach Jahrhunderten, wie sie sich bei Royer findet,
überall das Richtige sehen. Es mußten hier öfter größere Zeiträume zu¬
sammengefaßt, mitunter auch bei kleineren stillgestanden werden, wie das auch
gegen Ende des zweiten Bandes dem Verfasser selbst zum Bewußtsein ge¬
kommen ist.

Für das Studium ausländischer Theaterstücke in minder zugänglichen
Sprachen hat Herr Royer befreundete Männer zu Rathe gezogen; so für die
altniederländischen Dramen (die uns theils aus einem Breslauer Abdruck,
theils in Haupts Zeitschrift bekannt geworden) Herrn Victor Wilder, den
bekannten Wiederentdecker der "Gans von Cairo"; für das slavische Theater
Herrn Alexander Chodzko. Freilich haben sie ihm nach diesen beiden Richtungen
nur spärliche Auszüge mitgetheilt. Um so bedeutendere Ausbeute hat dagegen
Herr Chodzko auf dem Gebiete der persischen Mysterien geliefert. Hier galt
es denn auch eine wirkliche Bereicherung des Literaturstoffes. Die Epoche
aus der diese Mysterien, oder wie sie ursprünglich heißen, leaöiäs, stammen,
ist freilich kaum annähernd zu bestimmen. Nach der Aussage persischer Ge¬
lehrter sind sie ursprünglich arabisch in sehr früher Zeit zum Preise der
Allem geschrieben und vor einem schulischen Publikum aufgeführt worden.
Sie sind durchweg stilvoll und ergreifend in ihrer lyrischen Einfachheit. Das
erste heißt "der Bote Gottes"; da wird durch den Engel Gabriel dem
Propheten Muhamed eröffnet, daß seine beiden Enkel nach Gottes Rathschluß
für die Erlösung der islamitischen Völker sterben sollen, und er nicht nur
selbst dies billigen, sondern auch die Zustimmung der Eltern, ihre Kinder in
den Tod zu geben, erlangen müsse. Am schwersten erreicht dies Muhamed
bei der Mutter, deren Klage wahrhaft erschütternd ist. -- Es folgt "der
Tod des Propheten". Da bietet Muhamed, der aus Versehen einen Beduinen
geschlagen, diesem zur Ausübung des Vergeltungsrechtes seinen Rücken dar,
und nachdem er so der menschlichen Gerechtigkeit genuggethan, überliefert er
sich der göttlichen, dem Todesengel, so sehr seine Tochter diesen abzuwehren
sucht, mit der Bitte, um seinetwillen das Volk zu verschonen.

In dem nächsten Stücke, der "Usurpation Abubekrs" wird dargestellt,
wie dieser Fürst, nach schulischen Begriffen im unrechtmäßigen Besitz des
Kalifats, dem rechtmäßigen Erben Ali nach dem Leben trachtet und nur
durch eine Stimme, die aus den Tiefen der Erde zu ihm spricht, abgehalten


Die synchronistische Darstellung des Buchs erweist sich schon auf dem
Gebiete der Mysterienliteratur, wo der Einfluß der verschiedenen Nationen
aus einander deutlich hervortritt, als die richtige. Wie irrig es für die späteren
Zeiträume ist, die Geschichte des Dramas in Monographien zu zerlegen,
welche die Nationen getrennt behandeln, ist von anderer Seite schon klar
genug nachgewiesen worden. Doch können wir nicht sagen, daß wir in der
Zerstückelung des Stoffs nach Jahrhunderten, wie sie sich bei Royer findet,
überall das Richtige sehen. Es mußten hier öfter größere Zeiträume zu¬
sammengefaßt, mitunter auch bei kleineren stillgestanden werden, wie das auch
gegen Ende des zweiten Bandes dem Verfasser selbst zum Bewußtsein ge¬
kommen ist.

Für das Studium ausländischer Theaterstücke in minder zugänglichen
Sprachen hat Herr Royer befreundete Männer zu Rathe gezogen; so für die
altniederländischen Dramen (die uns theils aus einem Breslauer Abdruck,
theils in Haupts Zeitschrift bekannt geworden) Herrn Victor Wilder, den
bekannten Wiederentdecker der „Gans von Cairo"; für das slavische Theater
Herrn Alexander Chodzko. Freilich haben sie ihm nach diesen beiden Richtungen
nur spärliche Auszüge mitgetheilt. Um so bedeutendere Ausbeute hat dagegen
Herr Chodzko auf dem Gebiete der persischen Mysterien geliefert. Hier galt
es denn auch eine wirkliche Bereicherung des Literaturstoffes. Die Epoche
aus der diese Mysterien, oder wie sie ursprünglich heißen, leaöiäs, stammen,
ist freilich kaum annähernd zu bestimmen. Nach der Aussage persischer Ge¬
lehrter sind sie ursprünglich arabisch in sehr früher Zeit zum Preise der
Allem geschrieben und vor einem schulischen Publikum aufgeführt worden.
Sie sind durchweg stilvoll und ergreifend in ihrer lyrischen Einfachheit. Das
erste heißt „der Bote Gottes"; da wird durch den Engel Gabriel dem
Propheten Muhamed eröffnet, daß seine beiden Enkel nach Gottes Rathschluß
für die Erlösung der islamitischen Völker sterben sollen, und er nicht nur
selbst dies billigen, sondern auch die Zustimmung der Eltern, ihre Kinder in
den Tod zu geben, erlangen müsse. Am schwersten erreicht dies Muhamed
bei der Mutter, deren Klage wahrhaft erschütternd ist. — Es folgt „der
Tod des Propheten". Da bietet Muhamed, der aus Versehen einen Beduinen
geschlagen, diesem zur Ausübung des Vergeltungsrechtes seinen Rücken dar,
und nachdem er so der menschlichen Gerechtigkeit genuggethan, überliefert er
sich der göttlichen, dem Todesengel, so sehr seine Tochter diesen abzuwehren
sucht, mit der Bitte, um seinetwillen das Volk zu verschonen.

In dem nächsten Stücke, der „Usurpation Abubekrs" wird dargestellt,
wie dieser Fürst, nach schulischen Begriffen im unrechtmäßigen Besitz des
Kalifats, dem rechtmäßigen Erben Ali nach dem Leben trachtet und nur
durch eine Stimme, die aus den Tiefen der Erde zu ihm spricht, abgehalten


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[0165] Die synchronistische Darstellung des Buchs erweist sich schon auf dem Gebiete der Mysterienliteratur, wo der Einfluß der verschiedenen Nationen aus einander deutlich hervortritt, als die richtige. Wie irrig es für die späteren Zeiträume ist, die Geschichte des Dramas in Monographien zu zerlegen, welche die Nationen getrennt behandeln, ist von anderer Seite schon klar genug nachgewiesen worden. Doch können wir nicht sagen, daß wir in der Zerstückelung des Stoffs nach Jahrhunderten, wie sie sich bei Royer findet, überall das Richtige sehen. Es mußten hier öfter größere Zeiträume zu¬ sammengefaßt, mitunter auch bei kleineren stillgestanden werden, wie das auch gegen Ende des zweiten Bandes dem Verfasser selbst zum Bewußtsein ge¬ kommen ist. Für das Studium ausländischer Theaterstücke in minder zugänglichen Sprachen hat Herr Royer befreundete Männer zu Rathe gezogen; so für die altniederländischen Dramen (die uns theils aus einem Breslauer Abdruck, theils in Haupts Zeitschrift bekannt geworden) Herrn Victor Wilder, den bekannten Wiederentdecker der „Gans von Cairo"; für das slavische Theater Herrn Alexander Chodzko. Freilich haben sie ihm nach diesen beiden Richtungen nur spärliche Auszüge mitgetheilt. Um so bedeutendere Ausbeute hat dagegen Herr Chodzko auf dem Gebiete der persischen Mysterien geliefert. Hier galt es denn auch eine wirkliche Bereicherung des Literaturstoffes. Die Epoche aus der diese Mysterien, oder wie sie ursprünglich heißen, leaöiäs, stammen, ist freilich kaum annähernd zu bestimmen. Nach der Aussage persischer Ge¬ lehrter sind sie ursprünglich arabisch in sehr früher Zeit zum Preise der Allem geschrieben und vor einem schulischen Publikum aufgeführt worden. Sie sind durchweg stilvoll und ergreifend in ihrer lyrischen Einfachheit. Das erste heißt „der Bote Gottes"; da wird durch den Engel Gabriel dem Propheten Muhamed eröffnet, daß seine beiden Enkel nach Gottes Rathschluß für die Erlösung der islamitischen Völker sterben sollen, und er nicht nur selbst dies billigen, sondern auch die Zustimmung der Eltern, ihre Kinder in den Tod zu geben, erlangen müsse. Am schwersten erreicht dies Muhamed bei der Mutter, deren Klage wahrhaft erschütternd ist. — Es folgt „der Tod des Propheten". Da bietet Muhamed, der aus Versehen einen Beduinen geschlagen, diesem zur Ausübung des Vergeltungsrechtes seinen Rücken dar, und nachdem er so der menschlichen Gerechtigkeit genuggethan, überliefert er sich der göttlichen, dem Todesengel, so sehr seine Tochter diesen abzuwehren sucht, mit der Bitte, um seinetwillen das Volk zu verschonen. In dem nächsten Stücke, der „Usurpation Abubekrs" wird dargestellt, wie dieser Fürst, nach schulischen Begriffen im unrechtmäßigen Besitz des Kalifats, dem rechtmäßigen Erben Ali nach dem Leben trachtet und nur durch eine Stimme, die aus den Tiefen der Erde zu ihm spricht, abgehalten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/165>, abgerufen am 24.08.2024.