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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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zu Tage zu und wandte sich bald auch die Aufmerksamkeit der Moskaner
Journalisten und Tagespolitiker dem "verlassenen Bruderstamm" am San
und Dnjester zu. Die literarischen Vereine von hüben und drüben traten in
directe Beziehungen, tauschten Druckschriften und Sympathien aus. russische
Reisende besuchten die ostgalizischen Städte und erinnerten sich und ihre neu-
gefundenen Stammesbrüder wehmüthig an die Zeiten, da Halicz und Wladimir
die Sitze rechtgläubiger Großfürsten, die Vormauern mongolischer, später pol¬
nischer Ueberfluthung gewesen waren. Als vollends der polnisch - lithauische
Aufstand ausbrach und die Kunde von den bauernfreundlichen Thaten
Murawjew's nach Lemberg brachte, wurden die russisch-ruthenischen Wechsel¬
wirkungen immer zahlreicher und inniger. Während Rußland das stolze
Polenthum ins Herz traf und die lithauischen und weißrussischen Bauern
zu Herren des Landes zu machen suchte, das dieselben bis dazu als Sclaven
bebaut hatten, nahm der polnische Einfluß in Wien seit dem Sturz Rech¬
bergs fortwährend zu, schien Galizien immer mehr eine polnische Provinz
werden zu sollen. Die aus Großpolen verbannten Edelleute und Priester
fanden westlich vom Dnjester freundliche Aufnahme; andererseits zogen an¬
gesehene russisch-galizische Gelehrte über die Grenze, um als Lehrer und Be¬
amte an der Nussification der ehemals polnischen Länder ehrenvollen Antheil
zu nehmen. Die Spannung zwischen den Cabinetten von Wien und Peters¬
burg konnte nur dazu beitragen, die russischen Sympathien in Ostgalizien zu
nähren und je enger das Bündniß zwischen den k. k. Machthabern und den
Polen wurde, desto entschiedener gingen die Ruthenen in das großrussische
Lager über. Die Situation nahm mehr und mehr den Charakter eines offenen
Krieges an. Während die Wiener Presse über das Geschick der unglücklichen
Polen Rußlands Thränen vergoß, erklärten der Golos und die Moskausche
Zeitung, daß die rechtlose Stellung der russischen Nationalität in Galizien
nicht länger zu dulden und mit der Ehre des großen slavischen Staats
unvereinbar sei, der an der Grenze bisher müssig zugesehen habe. Man
bewies haarscharf, daß die polnisch - lithauische Frage nur in Galizien
gelöst werden könne und daß alle Versuche zur Absorption des polnischen
Elementes durch das russische vergeblich seien, so lange das Polenthum in
Oestreich genährt und mit dem Schweiß und Blut der Ruthenen großgezogen
werde. Oestreichischer Seits wurde mit Klagen über systematische Aufreizung
k. k. Unterthanen durch russische Agenten und Bücherspeditionen geantwortet.
Die Hauptrolle spielte indessen die Agrarfrage. Obgleich der Robot in ganz
Oestreich seit 1848 abgelöst worden war, ließ die Stellung der galizischen
Bauern noch immer viel zu wünschen übrig und die Unzufriedenheit der¬
selben wuchs in demselben Maaß, in dem die auf Ruin des polnischen Adels
gerichtete Tendenz der russischen Regierung deutlicher hervortrat.


zu Tage zu und wandte sich bald auch die Aufmerksamkeit der Moskaner
Journalisten und Tagespolitiker dem „verlassenen Bruderstamm" am San
und Dnjester zu. Die literarischen Vereine von hüben und drüben traten in
directe Beziehungen, tauschten Druckschriften und Sympathien aus. russische
Reisende besuchten die ostgalizischen Städte und erinnerten sich und ihre neu-
gefundenen Stammesbrüder wehmüthig an die Zeiten, da Halicz und Wladimir
die Sitze rechtgläubiger Großfürsten, die Vormauern mongolischer, später pol¬
nischer Ueberfluthung gewesen waren. Als vollends der polnisch - lithauische
Aufstand ausbrach und die Kunde von den bauernfreundlichen Thaten
Murawjew's nach Lemberg brachte, wurden die russisch-ruthenischen Wechsel¬
wirkungen immer zahlreicher und inniger. Während Rußland das stolze
Polenthum ins Herz traf und die lithauischen und weißrussischen Bauern
zu Herren des Landes zu machen suchte, das dieselben bis dazu als Sclaven
bebaut hatten, nahm der polnische Einfluß in Wien seit dem Sturz Rech¬
bergs fortwährend zu, schien Galizien immer mehr eine polnische Provinz
werden zu sollen. Die aus Großpolen verbannten Edelleute und Priester
fanden westlich vom Dnjester freundliche Aufnahme; andererseits zogen an¬
gesehene russisch-galizische Gelehrte über die Grenze, um als Lehrer und Be¬
amte an der Nussification der ehemals polnischen Länder ehrenvollen Antheil
zu nehmen. Die Spannung zwischen den Cabinetten von Wien und Peters¬
burg konnte nur dazu beitragen, die russischen Sympathien in Ostgalizien zu
nähren und je enger das Bündniß zwischen den k. k. Machthabern und den
Polen wurde, desto entschiedener gingen die Ruthenen in das großrussische
Lager über. Die Situation nahm mehr und mehr den Charakter eines offenen
Krieges an. Während die Wiener Presse über das Geschick der unglücklichen
Polen Rußlands Thränen vergoß, erklärten der Golos und die Moskausche
Zeitung, daß die rechtlose Stellung der russischen Nationalität in Galizien
nicht länger zu dulden und mit der Ehre des großen slavischen Staats
unvereinbar sei, der an der Grenze bisher müssig zugesehen habe. Man
bewies haarscharf, daß die polnisch - lithauische Frage nur in Galizien
gelöst werden könne und daß alle Versuche zur Absorption des polnischen
Elementes durch das russische vergeblich seien, so lange das Polenthum in
Oestreich genährt und mit dem Schweiß und Blut der Ruthenen großgezogen
werde. Oestreichischer Seits wurde mit Klagen über systematische Aufreizung
k. k. Unterthanen durch russische Agenten und Bücherspeditionen geantwortet.
Die Hauptrolle spielte indessen die Agrarfrage. Obgleich der Robot in ganz
Oestreich seit 1848 abgelöst worden war, ließ die Stellung der galizischen
Bauern noch immer viel zu wünschen übrig und die Unzufriedenheit der¬
selben wuchs in demselben Maaß, in dem die auf Ruin des polnischen Adels
gerichtete Tendenz der russischen Regierung deutlicher hervortrat.


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[0154] zu Tage zu und wandte sich bald auch die Aufmerksamkeit der Moskaner Journalisten und Tagespolitiker dem „verlassenen Bruderstamm" am San und Dnjester zu. Die literarischen Vereine von hüben und drüben traten in directe Beziehungen, tauschten Druckschriften und Sympathien aus. russische Reisende besuchten die ostgalizischen Städte und erinnerten sich und ihre neu- gefundenen Stammesbrüder wehmüthig an die Zeiten, da Halicz und Wladimir die Sitze rechtgläubiger Großfürsten, die Vormauern mongolischer, später pol¬ nischer Ueberfluthung gewesen waren. Als vollends der polnisch - lithauische Aufstand ausbrach und die Kunde von den bauernfreundlichen Thaten Murawjew's nach Lemberg brachte, wurden die russisch-ruthenischen Wechsel¬ wirkungen immer zahlreicher und inniger. Während Rußland das stolze Polenthum ins Herz traf und die lithauischen und weißrussischen Bauern zu Herren des Landes zu machen suchte, das dieselben bis dazu als Sclaven bebaut hatten, nahm der polnische Einfluß in Wien seit dem Sturz Rech¬ bergs fortwährend zu, schien Galizien immer mehr eine polnische Provinz werden zu sollen. Die aus Großpolen verbannten Edelleute und Priester fanden westlich vom Dnjester freundliche Aufnahme; andererseits zogen an¬ gesehene russisch-galizische Gelehrte über die Grenze, um als Lehrer und Be¬ amte an der Nussification der ehemals polnischen Länder ehrenvollen Antheil zu nehmen. Die Spannung zwischen den Cabinetten von Wien und Peters¬ burg konnte nur dazu beitragen, die russischen Sympathien in Ostgalizien zu nähren und je enger das Bündniß zwischen den k. k. Machthabern und den Polen wurde, desto entschiedener gingen die Ruthenen in das großrussische Lager über. Die Situation nahm mehr und mehr den Charakter eines offenen Krieges an. Während die Wiener Presse über das Geschick der unglücklichen Polen Rußlands Thränen vergoß, erklärten der Golos und die Moskausche Zeitung, daß die rechtlose Stellung der russischen Nationalität in Galizien nicht länger zu dulden und mit der Ehre des großen slavischen Staats unvereinbar sei, der an der Grenze bisher müssig zugesehen habe. Man bewies haarscharf, daß die polnisch - lithauische Frage nur in Galizien gelöst werden könne und daß alle Versuche zur Absorption des polnischen Elementes durch das russische vergeblich seien, so lange das Polenthum in Oestreich genährt und mit dem Schweiß und Blut der Ruthenen großgezogen werde. Oestreichischer Seits wurde mit Klagen über systematische Aufreizung k. k. Unterthanen durch russische Agenten und Bücherspeditionen geantwortet. Die Hauptrolle spielte indessen die Agrarfrage. Obgleich der Robot in ganz Oestreich seit 1848 abgelöst worden war, ließ die Stellung der galizischen Bauern noch immer viel zu wünschen übrig und die Unzufriedenheit der¬ selben wuchs in demselben Maaß, in dem die auf Ruin des polnischen Adels gerichtete Tendenz der russischen Regierung deutlicher hervortrat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/154>, abgerufen am 24.08.2024.