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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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land gilt seit seiner Verselbständigung bekanntlich nicht mit Unrecht für den
mindestgut regierten Schweizercanton. Was Graubündten betrifft, so weiß
man in Bezug auf sein politisches Leben auch nichts Besonderes zu rühmen,
und doch ist dort das Referendum schon sehr lange in Uebung. Aber selbst
wenn dasselbe sich bewährt hätte, müßte man erst seine historische Entwicke¬
lung, die guten oder Übeln Folgen, die es gehabt, vor Augen stellen, man
müßte wissen, ob es nicht in ganz specieller Weise der Vergangenheit, den
Institutionen, den Sitten jenes Ländchens, das so vielfach sich von den anderen
Cantonen unterscheidet, entspricht, sodaß seine Erfolge eben besonderen indi¬
viduellen Umständen zu verdanken wären, die sich nirgends sonst in der Schweiz
vorfinden. Ueber Alles dies gibt uns jedoch weder Herr Hilty noch sein Lands-
monn Herr Gengel irgendwelche Aufschlüsse. Gründe geben sie zwar viele,
Thatsachen aber keine. Es steht somit Theorie gegen Theorie und ein Be¬
weis ist vor der Hand unmöglich. Zu diesen selbst übergehend beleuchtet
Tallichet zunächst den Vorzug des Referendums, daß es in sicherer und
ruhiger Weise die wahre Volksmehrheit kundgeben soll, woraus dann eine
ebenso große Beruhigung des Volkes selbst, gegründet auf demokratischen
Principien, hervorgehe. Aber Völker wie Individuen seien naturgesetzmäßig
stets nur unter Kämpfen fortgeschritten; wer dem Volke durch das Referendum
solche Kämpfe ersparen will, der zeigt sich befangen in eben jener Anschauung,
die den Radicalismus seit so vielen Jahren unfruchtbar machte, in der Idee,
daß jede Opposition durch Constituirung einer großen demokratischen Partei
unterdrückt werden müsse, die vermöge ihrer Zahl eine unwiderstehliche Ge¬
walt im Staate bilde. Das Referendum ist nur der letzte Ausdruck dieser
leichtlebigen Politik. In der Schweiz sind alle Reformen in übertriebener
Weise leicht gemacht worden und darum eben haben so viele hochgepriesene
Neuerungen so wenig Gutes hervorgebracht. Statt das Volk zu seiner wirk¬
lichen und wahren Souverainetät gelangen zu lassen, hat man aus ihm ein
bloßes Werkzeug gemacht. Denn die Souverainetät kann sich nur unter
Mitwirkung des gesammten Volks verwirklichen. Minderheit sowohl als
Mehrheit müssen gehört werden. Wenn jedoch ein Volk oder Völkchen seine
Herrschaftsrechte ausübt, ohne zu wissen, was es thut, so ist es eben "Werk¬
zeug", und thut es dies, ohne etwas wissen zu wollen, so wird es ein
Despot. Opposition muß geduldet werden, die ihre Gründe frei darlegen
darf, ohne zum voraus durch das Gefühl der Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen
entmuthigt zu sein. Dies aber findet gegenwärtig nicht einmal in den
Großen Räthen statt und nun verlangt man vom Volke, daß es thue, was
nicht einmal die von ihm eigens dazu gewählten Vertreter thun! Herr T.
nennt an einer anderen Stelle das Referendum eine Uebertreibung gerade
desjenigen Systems, welches die gegenwärtige Unzufriedenheit hervorgerufen.


land gilt seit seiner Verselbständigung bekanntlich nicht mit Unrecht für den
mindestgut regierten Schweizercanton. Was Graubündten betrifft, so weiß
man in Bezug auf sein politisches Leben auch nichts Besonderes zu rühmen,
und doch ist dort das Referendum schon sehr lange in Uebung. Aber selbst
wenn dasselbe sich bewährt hätte, müßte man erst seine historische Entwicke¬
lung, die guten oder Übeln Folgen, die es gehabt, vor Augen stellen, man
müßte wissen, ob es nicht in ganz specieller Weise der Vergangenheit, den
Institutionen, den Sitten jenes Ländchens, das so vielfach sich von den anderen
Cantonen unterscheidet, entspricht, sodaß seine Erfolge eben besonderen indi¬
viduellen Umständen zu verdanken wären, die sich nirgends sonst in der Schweiz
vorfinden. Ueber Alles dies gibt uns jedoch weder Herr Hilty noch sein Lands-
monn Herr Gengel irgendwelche Aufschlüsse. Gründe geben sie zwar viele,
Thatsachen aber keine. Es steht somit Theorie gegen Theorie und ein Be¬
weis ist vor der Hand unmöglich. Zu diesen selbst übergehend beleuchtet
Tallichet zunächst den Vorzug des Referendums, daß es in sicherer und
ruhiger Weise die wahre Volksmehrheit kundgeben soll, woraus dann eine
ebenso große Beruhigung des Volkes selbst, gegründet auf demokratischen
Principien, hervorgehe. Aber Völker wie Individuen seien naturgesetzmäßig
stets nur unter Kämpfen fortgeschritten; wer dem Volke durch das Referendum
solche Kämpfe ersparen will, der zeigt sich befangen in eben jener Anschauung,
die den Radicalismus seit so vielen Jahren unfruchtbar machte, in der Idee,
daß jede Opposition durch Constituirung einer großen demokratischen Partei
unterdrückt werden müsse, die vermöge ihrer Zahl eine unwiderstehliche Ge¬
walt im Staate bilde. Das Referendum ist nur der letzte Ausdruck dieser
leichtlebigen Politik. In der Schweiz sind alle Reformen in übertriebener
Weise leicht gemacht worden und darum eben haben so viele hochgepriesene
Neuerungen so wenig Gutes hervorgebracht. Statt das Volk zu seiner wirk¬
lichen und wahren Souverainetät gelangen zu lassen, hat man aus ihm ein
bloßes Werkzeug gemacht. Denn die Souverainetät kann sich nur unter
Mitwirkung des gesammten Volks verwirklichen. Minderheit sowohl als
Mehrheit müssen gehört werden. Wenn jedoch ein Volk oder Völkchen seine
Herrschaftsrechte ausübt, ohne zu wissen, was es thut, so ist es eben „Werk¬
zeug", und thut es dies, ohne etwas wissen zu wollen, so wird es ein
Despot. Opposition muß geduldet werden, die ihre Gründe frei darlegen
darf, ohne zum voraus durch das Gefühl der Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen
entmuthigt zu sein. Dies aber findet gegenwärtig nicht einmal in den
Großen Räthen statt und nun verlangt man vom Volke, daß es thue, was
nicht einmal die von ihm eigens dazu gewählten Vertreter thun! Herr T.
nennt an einer anderen Stelle das Referendum eine Uebertreibung gerade
desjenigen Systems, welches die gegenwärtige Unzufriedenheit hervorgerufen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/136>, abgerufen am 25.08.2024.