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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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sondern auch ein Verlust für das Ganze, und indem so der Radikalismus
die durch ihre sociale Stellung und Geistesbildung charakterisirte Classe von
den Geschäften ausschloß und das Volk unter dem Scheine, ihm Alles zu
geben, was es bedürfe, in eine Art von patriarchalischen Zustande zurück¬
zuführen suchte, ließ er ihm schließlich kein anderes Recht, als dasjenige, ge¬
führt zu werden, -- geführt zu werden, selbst zur Ausübung des höchsten
Rechtes seiner Souverainetät, zur Abstimmung, für die ihm die Candidaten
schon zum voraus bezeichnet und bestimmt wurden. Die intelligentesten Ra¬
dikalen haben zuletzt selbst eingesehen und eingestanden, daß dies jedenfalls
eine der wichtigsten Ursachen der gegenwärtigen allgemein verbreiteten Un¬
zufriedenheit ist. So sagt Herr Gengel, ein entschiedener Anhänger des
Referendums, der Initiative, des Veto, in seiner obengenannten Schrift:
"Die Ausübung der Volkssouverainetät durch das Recht, die Volksvertreter
zu wählen, ist sehr dem Zufall anheimgegeben. Zunächst ist der Wahlact
an bestimmte Zeitperioden gebunden und da fällt der Moment der Wahl
nur sehr selten mit demjenigen zusammen, wo das Volk einen wahren Aus¬
druck seiner Willensmeinung abzugeben im Stande ist, sodaß dann der Act
keinen Sinn mehr hat. Diese Wahlart läßt ferner den Gewählten nach der
Wahl außer aller Berührung mit dem Wähler. Was weiß der Wähler von
dem Thun und Lassen des Gewählten? Durch das Recht der Abstimmung
über die Verfassung wird die Volkssouverainetät jedenfalls viel entschiedener
festgestellt, als durch das Wahlrecht. Wenn aber das Volk nur über die
Verfassung, nicht auch über die Gesetze abstimmen darf, so entstehen eigent¬
lich zwei Souverainetäten: jene des Volks in Bezug auf die Verfassung und
jene der Behörden in Bezug auf die Gesetzgebung und Regierung. Und
außerdem gibt es keinen organischen Zusammenhang zwischen der Verfassung
und der Gesetzgebung." Hiergegen läßt sich kaum etwas einwenden; nament¬
lich gelten diese Bemerkungen, wenn keine stark organisirte Opposition vor¬
handen ist. Wahlrecht und selbst die Abstimmung über die Verfassung sind
dann die größten Illusionen. Die Regierung wird versucht, ihre Macht, die
keine rechte Controle besitzt, zu mißbrauchen, und andererseits wird der Geist
des wahren Fortschritts eingeschläfert. So ist es in der Schweiz gekommen:
der Radicalismus hat sich als der einzig wahre Ausdruck des Volkswillens
hingestestellt. gegen welchen jede Opposition fast als ein Verrath erscheint; er
hat ganz nach seinem Belieben regiert und die Folge ist ein dumpfes, all¬
gemeines Mißbehagen; das Volk hat das Vertrauen zu sich selbst und zu
seinen Führern verloren.

Der Verfasser wirft hier einen Seitenblick auf die großen Nachbar-
Völker der Schweiz und findet da eine ganz entsprechende Unbehaglichkeit,
die, wenn auch in verschiedenem Maaß, auf dieselben Ursachen zurückweise.


sondern auch ein Verlust für das Ganze, und indem so der Radikalismus
die durch ihre sociale Stellung und Geistesbildung charakterisirte Classe von
den Geschäften ausschloß und das Volk unter dem Scheine, ihm Alles zu
geben, was es bedürfe, in eine Art von patriarchalischen Zustande zurück¬
zuführen suchte, ließ er ihm schließlich kein anderes Recht, als dasjenige, ge¬
führt zu werden, — geführt zu werden, selbst zur Ausübung des höchsten
Rechtes seiner Souverainetät, zur Abstimmung, für die ihm die Candidaten
schon zum voraus bezeichnet und bestimmt wurden. Die intelligentesten Ra¬
dikalen haben zuletzt selbst eingesehen und eingestanden, daß dies jedenfalls
eine der wichtigsten Ursachen der gegenwärtigen allgemein verbreiteten Un¬
zufriedenheit ist. So sagt Herr Gengel, ein entschiedener Anhänger des
Referendums, der Initiative, des Veto, in seiner obengenannten Schrift:
„Die Ausübung der Volkssouverainetät durch das Recht, die Volksvertreter
zu wählen, ist sehr dem Zufall anheimgegeben. Zunächst ist der Wahlact
an bestimmte Zeitperioden gebunden und da fällt der Moment der Wahl
nur sehr selten mit demjenigen zusammen, wo das Volk einen wahren Aus¬
druck seiner Willensmeinung abzugeben im Stande ist, sodaß dann der Act
keinen Sinn mehr hat. Diese Wahlart läßt ferner den Gewählten nach der
Wahl außer aller Berührung mit dem Wähler. Was weiß der Wähler von
dem Thun und Lassen des Gewählten? Durch das Recht der Abstimmung
über die Verfassung wird die Volkssouverainetät jedenfalls viel entschiedener
festgestellt, als durch das Wahlrecht. Wenn aber das Volk nur über die
Verfassung, nicht auch über die Gesetze abstimmen darf, so entstehen eigent¬
lich zwei Souverainetäten: jene des Volks in Bezug auf die Verfassung und
jene der Behörden in Bezug auf die Gesetzgebung und Regierung. Und
außerdem gibt es keinen organischen Zusammenhang zwischen der Verfassung
und der Gesetzgebung." Hiergegen läßt sich kaum etwas einwenden; nament¬
lich gelten diese Bemerkungen, wenn keine stark organisirte Opposition vor¬
handen ist. Wahlrecht und selbst die Abstimmung über die Verfassung sind
dann die größten Illusionen. Die Regierung wird versucht, ihre Macht, die
keine rechte Controle besitzt, zu mißbrauchen, und andererseits wird der Geist
des wahren Fortschritts eingeschläfert. So ist es in der Schweiz gekommen:
der Radicalismus hat sich als der einzig wahre Ausdruck des Volkswillens
hingestestellt. gegen welchen jede Opposition fast als ein Verrath erscheint; er
hat ganz nach seinem Belieben regiert und die Folge ist ein dumpfes, all¬
gemeines Mißbehagen; das Volk hat das Vertrauen zu sich selbst und zu
seinen Führern verloren.

Der Verfasser wirft hier einen Seitenblick auf die großen Nachbar-
Völker der Schweiz und findet da eine ganz entsprechende Unbehaglichkeit,
die, wenn auch in verschiedenem Maaß, auf dieselben Ursachen zurückweise.


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[0134] sondern auch ein Verlust für das Ganze, und indem so der Radikalismus die durch ihre sociale Stellung und Geistesbildung charakterisirte Classe von den Geschäften ausschloß und das Volk unter dem Scheine, ihm Alles zu geben, was es bedürfe, in eine Art von patriarchalischen Zustande zurück¬ zuführen suchte, ließ er ihm schließlich kein anderes Recht, als dasjenige, ge¬ führt zu werden, — geführt zu werden, selbst zur Ausübung des höchsten Rechtes seiner Souverainetät, zur Abstimmung, für die ihm die Candidaten schon zum voraus bezeichnet und bestimmt wurden. Die intelligentesten Ra¬ dikalen haben zuletzt selbst eingesehen und eingestanden, daß dies jedenfalls eine der wichtigsten Ursachen der gegenwärtigen allgemein verbreiteten Un¬ zufriedenheit ist. So sagt Herr Gengel, ein entschiedener Anhänger des Referendums, der Initiative, des Veto, in seiner obengenannten Schrift: „Die Ausübung der Volkssouverainetät durch das Recht, die Volksvertreter zu wählen, ist sehr dem Zufall anheimgegeben. Zunächst ist der Wahlact an bestimmte Zeitperioden gebunden und da fällt der Moment der Wahl nur sehr selten mit demjenigen zusammen, wo das Volk einen wahren Aus¬ druck seiner Willensmeinung abzugeben im Stande ist, sodaß dann der Act keinen Sinn mehr hat. Diese Wahlart läßt ferner den Gewählten nach der Wahl außer aller Berührung mit dem Wähler. Was weiß der Wähler von dem Thun und Lassen des Gewählten? Durch das Recht der Abstimmung über die Verfassung wird die Volkssouverainetät jedenfalls viel entschiedener festgestellt, als durch das Wahlrecht. Wenn aber das Volk nur über die Verfassung, nicht auch über die Gesetze abstimmen darf, so entstehen eigent¬ lich zwei Souverainetäten: jene des Volks in Bezug auf die Verfassung und jene der Behörden in Bezug auf die Gesetzgebung und Regierung. Und außerdem gibt es keinen organischen Zusammenhang zwischen der Verfassung und der Gesetzgebung." Hiergegen läßt sich kaum etwas einwenden; nament¬ lich gelten diese Bemerkungen, wenn keine stark organisirte Opposition vor¬ handen ist. Wahlrecht und selbst die Abstimmung über die Verfassung sind dann die größten Illusionen. Die Regierung wird versucht, ihre Macht, die keine rechte Controle besitzt, zu mißbrauchen, und andererseits wird der Geist des wahren Fortschritts eingeschläfert. So ist es in der Schweiz gekommen: der Radicalismus hat sich als der einzig wahre Ausdruck des Volkswillens hingestestellt. gegen welchen jede Opposition fast als ein Verrath erscheint; er hat ganz nach seinem Belieben regiert und die Folge ist ein dumpfes, all¬ gemeines Mißbehagen; das Volk hat das Vertrauen zu sich selbst und zu seinen Führern verloren. Der Verfasser wirft hier einen Seitenblick auf die großen Nachbar- Völker der Schweiz und findet da eine ganz entsprechende Unbehaglichkeit, die, wenn auch in verschiedenem Maaß, auf dieselben Ursachen zurückweise.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/134>, abgerufen am 24.08.2024.