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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Und wer weiß, wie viele Fälschungen mit den Zetteln getrieben wurden?
Ein Dorfwirth erzählte mir ganz ruhig, daß er andere Namen auf die Zettel
geschrieben als diejenigen, um welche ihn die des Lesens und Schreibens un¬
kundigen Wähler gebeten hatten. Eine lehrreiche Zusammenstellung*) machte
der "Rappel", das Blatt der äußersten Linken und der Familie Hugo, die
den Einfluß der Negierung auf ungebildete Wähler deutlich beweist. In
18 Departements beträgt die Zahl derer, die weder lesen noch schreiben
können (illöti'6s) 0--10 Proc.; hier wurden 34 oppositionelle, 27 officielle
Abgeordnete gewählt. In 28 Departements beträgt dieselbe Classe 10 bis
25 Proc.; sie wählten 28 oppositionelle, 43 officielle Abgeordnete. In 48
Departements sind der Ungebildeten 25--66 Proc., und hier setzte die Oppo¬
sition nur 52, die Regierung 107 der Ihrigen durch. Daß unter diesen
letzten sich auch der Gerf befindet, Herrn Granier's aus Cassagnac gelobtes
Land, ist selbstverständlich. Das hübsche Kunststück, vermittelst dessen sich
mehr Stimmzettel als Wähler vorfinden, scheint auch mehrere Male aufgeführt
worden zu sein.

Besonders merkwürdig war die Haltung der Pariser Wähler, namentlich
in der Zeit zwischen den ersten und den engeren Wahlen. Im Jahre 1852
wählte Paris 7 officielle Abgeordnete, 2 liberale: es waren Carnot und
Cavaignac; 1847 standen 5 Liberale gegen 5 Regierungsmänner; für diese
Wahl wurde 1863 die Hauptstadt um einen Wahldezirk verkürzt, schickte aber
9 Gegner der Regierung in die Kammer. Dieselbe Zahl hat sie auch heute,
aber von diesen 9 ist die Mehrzahl radical, die wenigsten sind liberal! Diese
Erscheinung ist es, die sür dies Jahr charakteristisch ist -- freilich nicht erfreu¬
lich, wenig Gutes für die Zukunft der französischen Opposition versprechend,
die ihren factiösen Charakter einmal nicht ablegen kann.

Es war als hätte sich eine große Verrücktheit eines Theiles der Presse
bemächtigt! Jules Favre ein Reactionair! Garnier - Pages ein Agent des
Orleans! Thiers ein Clericaler! Alle mehr oder weniger bereit der Regierung
nachzugeben! Jules Favre, der seit 12 Jahren Paris so ruhmreich, so ehren¬
voll vertrat! Thiers, der erbitterteste Feind des persönlichen Regiments! Die
Deutschen haben keinen Grund gerade für Thiers Sympathie zu hegen, denn
er hat das neue Deutschland von 1866 noch nicht acceptiren können, seine
schutzzöllnerische und seine Gleichgewichtspolitik sind längst veraltet, aber eine
der eminentester Arbeitskräfte in der Kammer bleibt er, und der gefürchtetste
Gegner Rouhers, des Vicekaisers; dieser gestand auch ganz offen: "Wie
viele schlaflose Nächte (nuits blanc-Iles) würden mir die Pariser ersparen,



-) Bei dieser Berechnung sind schwankende Mitglieder des risrs parti zur Opposition
gerechnet; daher die Unterschiede mit der vorigen Angabe der Zahlen. Das Verhältniß bleibt
jedoch fast genau dasselbe.

Und wer weiß, wie viele Fälschungen mit den Zetteln getrieben wurden?
Ein Dorfwirth erzählte mir ganz ruhig, daß er andere Namen auf die Zettel
geschrieben als diejenigen, um welche ihn die des Lesens und Schreibens un¬
kundigen Wähler gebeten hatten. Eine lehrreiche Zusammenstellung*) machte
der „Rappel", das Blatt der äußersten Linken und der Familie Hugo, die
den Einfluß der Negierung auf ungebildete Wähler deutlich beweist. In
18 Departements beträgt die Zahl derer, die weder lesen noch schreiben
können (illöti'6s) 0—10 Proc.; hier wurden 34 oppositionelle, 27 officielle
Abgeordnete gewählt. In 28 Departements beträgt dieselbe Classe 10 bis
25 Proc.; sie wählten 28 oppositionelle, 43 officielle Abgeordnete. In 48
Departements sind der Ungebildeten 25—66 Proc., und hier setzte die Oppo¬
sition nur 52, die Regierung 107 der Ihrigen durch. Daß unter diesen
letzten sich auch der Gerf befindet, Herrn Granier's aus Cassagnac gelobtes
Land, ist selbstverständlich. Das hübsche Kunststück, vermittelst dessen sich
mehr Stimmzettel als Wähler vorfinden, scheint auch mehrere Male aufgeführt
worden zu sein.

Besonders merkwürdig war die Haltung der Pariser Wähler, namentlich
in der Zeit zwischen den ersten und den engeren Wahlen. Im Jahre 1852
wählte Paris 7 officielle Abgeordnete, 2 liberale: es waren Carnot und
Cavaignac; 1847 standen 5 Liberale gegen 5 Regierungsmänner; für diese
Wahl wurde 1863 die Hauptstadt um einen Wahldezirk verkürzt, schickte aber
9 Gegner der Regierung in die Kammer. Dieselbe Zahl hat sie auch heute,
aber von diesen 9 ist die Mehrzahl radical, die wenigsten sind liberal! Diese
Erscheinung ist es, die sür dies Jahr charakteristisch ist — freilich nicht erfreu¬
lich, wenig Gutes für die Zukunft der französischen Opposition versprechend,
die ihren factiösen Charakter einmal nicht ablegen kann.

Es war als hätte sich eine große Verrücktheit eines Theiles der Presse
bemächtigt! Jules Favre ein Reactionair! Garnier - Pages ein Agent des
Orleans! Thiers ein Clericaler! Alle mehr oder weniger bereit der Regierung
nachzugeben! Jules Favre, der seit 12 Jahren Paris so ruhmreich, so ehren¬
voll vertrat! Thiers, der erbitterteste Feind des persönlichen Regiments! Die
Deutschen haben keinen Grund gerade für Thiers Sympathie zu hegen, denn
er hat das neue Deutschland von 1866 noch nicht acceptiren können, seine
schutzzöllnerische und seine Gleichgewichtspolitik sind längst veraltet, aber eine
der eminentester Arbeitskräfte in der Kammer bleibt er, und der gefürchtetste
Gegner Rouhers, des Vicekaisers; dieser gestand auch ganz offen: „Wie
viele schlaflose Nächte (nuits blanc-Iles) würden mir die Pariser ersparen,



-) Bei dieser Berechnung sind schwankende Mitglieder des risrs parti zur Opposition
gerechnet; daher die Unterschiede mit der vorigen Angabe der Zahlen. Das Verhältniß bleibt
jedoch fast genau dasselbe.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/509>, abgerufen am 24.07.2024.