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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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päischen Staaten, und die Geschichte der Schul- und Ehegesetze ist zu einer
Geschichte clericaler Siege über den deutsch-östreichischen Liberalismus ge¬
worden. Mag immerhin wahr sein, daß Renitenz und Uebelwollen der Einzel-
Landtage einen Haupttheil der Schuld an diesen Mißerfolgen tragen, das
eigentliche Uebel liegt tiefer und wird auch noch nicht beseitigt sein, wenn
die k. k. Hofburg dazu gezwungen wird, diesseit der Leitha ebenso verfassungs¬
treu zu regieren, wie in Ungarn. Die verabsäumte Arbeit dreier Jahrhunderte
kann mit den Mitteln des Constitutionaltsmus nicht fertig gebracht werden,
so lange der größte Theil derer, in deren Namen der Reichstag redet, die
Sprache der Zeit nicht versteht und der Renitenz des Clerus ein sehr viel
gefügigeres Material bietet, als dem Reformeifer der Wiener Liberalen. Aus
dem Deutschen ins Deutliche übersetzt bedeutet der Zwiespalt zwischen dem
Reichsrath und den Einzel-Landtagen nichts Anderes als den Zwiespalt in den
Anschauungen und Gewohnheiten der Bevölkerung, deren Bestandtheile nicht
nur in Rücksicht der Nationalität, sondern auch in Rücksicht der Bildung
unendlich verschieden sind. Wenn die offene Feindschaft der Bischöfe gegen
die neuen Gesetze nicht in der Abhängigkeit der Massen vom Clerus ihre
Stütze hätte, so könnte es nimmermehr geschehen, daß der Einfluß der Kirchen¬
fürsten jede Action der Räthe der Krone lahm legt u"d die Regierung in
der Anstellung entschiedener Feinde des neuen Systems das einzige Mittel
zur Erhaltung ihrer Autorität sieht. Die kurze Periode unter Joseph II. ab¬
gerechnet hat Oestreich kein 18. Jahrhundert, kein Zeitalter gehabt, in welchem
die moderne Staatsidee sich ihre nothwendigsten Voraussetzungen schaffte und
wesentlich aus diesem Grunde kann der Kaiserstaat sich nicht in die Anforde¬
rungen finden, welche das 19. Jahrhundert an sein inneres Staatsleben
stellt. -- InUn garn, wo der Landtag seit Wochen damit beschäftigt ist über
die ihm vorliegenden fünf verschiedenen Adreßentwürfe zum Entschluß zu kommen,
hat sich die durch die Wahlen des vorigen Monats veränderte Situation
noch nicht geklärt. Trotz ihrer numerischen Ueberlegenheit über die Opposition
ist die De'akpartei der Fortdauer ihrer Herrschaft nicht sicher; durch hundert
verschiedene Rücksichten gebunden, will sie die zwischen ihr und ihren Gegnern
bestehende Meinungsverschiedenheit nicht deutlich hervortreten lassen, die
Grenzen der Programme möglichst verwischen. Die Hauptfrage, um welche
es sich in der Adreßdebatte handelt, ist die nach der auswärtigen Politik der
Zukunft. Des Grafen Beust diplomatische Vielgeschäftigkeit und Jntriguen-
fucht hat das Verlangen nach festeren Bürgschaften sür eine Friedenspolitik zu
einem allgemeinen gemacht, und Graf Andrassy sieht es sicher nicht ungern,
daß die Linke in dieser Beziehung dem Reichskanzler ein Mißtrauen zeigt,
wie er es seiner Stellung nach nicht offen äußern darf. Ungarn und Oest¬
reich haben das gemeinsame Interesse, feste Front gegen Rußland zu bilden


päischen Staaten, und die Geschichte der Schul- und Ehegesetze ist zu einer
Geschichte clericaler Siege über den deutsch-östreichischen Liberalismus ge¬
worden. Mag immerhin wahr sein, daß Renitenz und Uebelwollen der Einzel-
Landtage einen Haupttheil der Schuld an diesen Mißerfolgen tragen, das
eigentliche Uebel liegt tiefer und wird auch noch nicht beseitigt sein, wenn
die k. k. Hofburg dazu gezwungen wird, diesseit der Leitha ebenso verfassungs¬
treu zu regieren, wie in Ungarn. Die verabsäumte Arbeit dreier Jahrhunderte
kann mit den Mitteln des Constitutionaltsmus nicht fertig gebracht werden,
so lange der größte Theil derer, in deren Namen der Reichstag redet, die
Sprache der Zeit nicht versteht und der Renitenz des Clerus ein sehr viel
gefügigeres Material bietet, als dem Reformeifer der Wiener Liberalen. Aus
dem Deutschen ins Deutliche übersetzt bedeutet der Zwiespalt zwischen dem
Reichsrath und den Einzel-Landtagen nichts Anderes als den Zwiespalt in den
Anschauungen und Gewohnheiten der Bevölkerung, deren Bestandtheile nicht
nur in Rücksicht der Nationalität, sondern auch in Rücksicht der Bildung
unendlich verschieden sind. Wenn die offene Feindschaft der Bischöfe gegen
die neuen Gesetze nicht in der Abhängigkeit der Massen vom Clerus ihre
Stütze hätte, so könnte es nimmermehr geschehen, daß der Einfluß der Kirchen¬
fürsten jede Action der Räthe der Krone lahm legt u«d die Regierung in
der Anstellung entschiedener Feinde des neuen Systems das einzige Mittel
zur Erhaltung ihrer Autorität sieht. Die kurze Periode unter Joseph II. ab¬
gerechnet hat Oestreich kein 18. Jahrhundert, kein Zeitalter gehabt, in welchem
die moderne Staatsidee sich ihre nothwendigsten Voraussetzungen schaffte und
wesentlich aus diesem Grunde kann der Kaiserstaat sich nicht in die Anforde¬
rungen finden, welche das 19. Jahrhundert an sein inneres Staatsleben
stellt. — InUn garn, wo der Landtag seit Wochen damit beschäftigt ist über
die ihm vorliegenden fünf verschiedenen Adreßentwürfe zum Entschluß zu kommen,
hat sich die durch die Wahlen des vorigen Monats veränderte Situation
noch nicht geklärt. Trotz ihrer numerischen Ueberlegenheit über die Opposition
ist die De'akpartei der Fortdauer ihrer Herrschaft nicht sicher; durch hundert
verschiedene Rücksichten gebunden, will sie die zwischen ihr und ihren Gegnern
bestehende Meinungsverschiedenheit nicht deutlich hervortreten lassen, die
Grenzen der Programme möglichst verwischen. Die Hauptfrage, um welche
es sich in der Adreßdebatte handelt, ist die nach der auswärtigen Politik der
Zukunft. Des Grafen Beust diplomatische Vielgeschäftigkeit und Jntriguen-
fucht hat das Verlangen nach festeren Bürgschaften sür eine Friedenspolitik zu
einem allgemeinen gemacht, und Graf Andrassy sieht es sicher nicht ungern,
daß die Linke in dieser Beziehung dem Reichskanzler ein Mißtrauen zeigt,
wie er es seiner Stellung nach nicht offen äußern darf. Ungarn und Oest¬
reich haben das gemeinsame Interesse, feste Front gegen Rußland zu bilden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/394>, abgerufen am 24.07.2024.