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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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men auch freisinniger als die republikanischen Schreier, die mit Pamphleten
eine neue Staatsordnung begründen zu können meinen. Das Kaiserthum
-- das scheint die Summe zu sein -- ist trotz all der moralischen, politischen
und materiellen Einbußen, welche es an den Rand des Abgrundes gebracht
zu haben schienen, für Frankreich eine Nothwendigkeit geblieben, denn von
den ihm entgegenstehenden Parteien ist keine im Stande, der französischen
Gesellschaft die Garantien für irgend eine Rechtsordnung, für eine, wenn
auch nur vorübergehende Herrschaft über die wüstesten Pöbelinstincte zu
bieten. Und aus dieser Nothwendigkeit soll eine Tugend gemacht werden
-- dieses auf dem sittlichen Banquerott einer ganzen Generation beruhende
System soll die Kraft haben, seine Traditionen zu verleugnen, seinen Unrath
zu verbrennen und den Phönix zu spielen?

Bei dem engen, wenn auch keineswegs auf den Gesetzen der Logik be¬
ruhenden Zusammenhang zwischen innerer und auswärtiger Politik in Frank>
reich, ist die Frage nach der Bedeutung der Wahlen sür den europäischen
Frieden ebenso vergeblich, wie die nach der Zukunft der französischen Frei¬
heit. Für ein günstiges Zeichen kann höchstens gelten, daß keine der am
Wahlkampf betheiligt' gewesenen Parteien den Krieg offen auf ihre Fahnen
geschrieben, jede fromme Wünsche für Frieden und Freiheit an die Spitze
ihres Programms gestellt hat. Von einer Nöthigung zum Fneden kann
für den Kaiser dennoch nicht die Rede sein, ebenso wenig davon, daß alle
Gründe sür eine Diversion nach Außen in Wegfall gekommen seien; im
Gegentheil ist für Republikaner vom Schlage der Rochefort und Bancel die
Aussicht auf kriegerischen Ruhm eine verführerischere Lockspeise, als für Männer,
welche wissen, was es für einen industriellen Staat wie den französischen mit
einem Kriege eigentlich auf sich hat. Immerhin läßt sich annehmen, daß
des Kaisers Friedenswünsche für eine Zeitlang an Consolidirung gewonnen
haben, zumal wenn wirklich mit der Tierspartei ein Regierungsversuch ge¬
macht werden sollte. Für den Ausfall dieses Experiments wird aber schwer¬
lich irgend Jemand in Frankreich die Bürgschaft übernehmen wollen. -- Unter
dem Schutz der Staubwolke, welche der Lärm um die Wahlen aufgewirbelt
hatte, ist die belgisch-französische Eisenbahnangelegenheit durch die Hinter¬
thür einer Expertencommission von der diplomatischen Bühne verschwunden. Bei
der gewichtigen Rolle, welche diese Angelegenheit während der letzten Monate
gespielt hat, erscheint begreiflich, daß ihre zeitweise Absetzung von der Tages¬
ordnung als eine vorläufige Bürgschaft für die friedlichen Absichten Frank¬
reichs und seiner Machthaber gefeiert wird. Wann und ob sie wieder hervor¬
gezogen wird, hängt wesentlich von dem Gang der allgemeinen Angelegen¬
heiten in Paris ab. Kommt Ollivier wirklich ans Ruder, so ist sie begraben,
schon weil Herr Rouher an ihrer Wiege stand. Von all' den französischen


men auch freisinniger als die republikanischen Schreier, die mit Pamphleten
eine neue Staatsordnung begründen zu können meinen. Das Kaiserthum
— das scheint die Summe zu sein — ist trotz all der moralischen, politischen
und materiellen Einbußen, welche es an den Rand des Abgrundes gebracht
zu haben schienen, für Frankreich eine Nothwendigkeit geblieben, denn von
den ihm entgegenstehenden Parteien ist keine im Stande, der französischen
Gesellschaft die Garantien für irgend eine Rechtsordnung, für eine, wenn
auch nur vorübergehende Herrschaft über die wüstesten Pöbelinstincte zu
bieten. Und aus dieser Nothwendigkeit soll eine Tugend gemacht werden
— dieses auf dem sittlichen Banquerott einer ganzen Generation beruhende
System soll die Kraft haben, seine Traditionen zu verleugnen, seinen Unrath
zu verbrennen und den Phönix zu spielen?

Bei dem engen, wenn auch keineswegs auf den Gesetzen der Logik be¬
ruhenden Zusammenhang zwischen innerer und auswärtiger Politik in Frank>
reich, ist die Frage nach der Bedeutung der Wahlen sür den europäischen
Frieden ebenso vergeblich, wie die nach der Zukunft der französischen Frei¬
heit. Für ein günstiges Zeichen kann höchstens gelten, daß keine der am
Wahlkampf betheiligt' gewesenen Parteien den Krieg offen auf ihre Fahnen
geschrieben, jede fromme Wünsche für Frieden und Freiheit an die Spitze
ihres Programms gestellt hat. Von einer Nöthigung zum Fneden kann
für den Kaiser dennoch nicht die Rede sein, ebenso wenig davon, daß alle
Gründe sür eine Diversion nach Außen in Wegfall gekommen seien; im
Gegentheil ist für Republikaner vom Schlage der Rochefort und Bancel die
Aussicht auf kriegerischen Ruhm eine verführerischere Lockspeise, als für Männer,
welche wissen, was es für einen industriellen Staat wie den französischen mit
einem Kriege eigentlich auf sich hat. Immerhin läßt sich annehmen, daß
des Kaisers Friedenswünsche für eine Zeitlang an Consolidirung gewonnen
haben, zumal wenn wirklich mit der Tierspartei ein Regierungsversuch ge¬
macht werden sollte. Für den Ausfall dieses Experiments wird aber schwer¬
lich irgend Jemand in Frankreich die Bürgschaft übernehmen wollen. — Unter
dem Schutz der Staubwolke, welche der Lärm um die Wahlen aufgewirbelt
hatte, ist die belgisch-französische Eisenbahnangelegenheit durch die Hinter¬
thür einer Expertencommission von der diplomatischen Bühne verschwunden. Bei
der gewichtigen Rolle, welche diese Angelegenheit während der letzten Monate
gespielt hat, erscheint begreiflich, daß ihre zeitweise Absetzung von der Tages¬
ordnung als eine vorläufige Bürgschaft für die friedlichen Absichten Frank¬
reichs und seiner Machthaber gefeiert wird. Wann und ob sie wieder hervor¬
gezogen wird, hängt wesentlich von dem Gang der allgemeinen Angelegen¬
heiten in Paris ab. Kommt Ollivier wirklich ans Ruder, so ist sie begraben,
schon weil Herr Rouher an ihrer Wiege stand. Von all' den französischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/390>, abgerufen am 24.07.2024.