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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Das verspürten denn in Hessen die Beamten sehr rasch, und auch die
steuerzahlenden wußten etwas davon zu erzählen. Denn ganz abgesehen von
der Vervielfältigung der Schreiberei, durch die in allen Bureaux die genauere
Controle angeblich nöthig gemacht wurde, fanden sich viel alte Beamte, die
in Ehren grau geworden waren, durch das Mißtrauen, das man ihnen, wie
sie meinten, persönlich entgegensetzte, gekränkt und verstimmt. "In Preußen",
so raisonnirte man. "wird jeder Mensch officiell als Spitzbube angesehen,
und wenn er gar ein Beamter ist, als ein ganz gefährlicher. Wozu die un¬
endlichen Schreibereien und Revisionen? Es ist früher bei uns nicht viel
gestohlen und betrogen worden, wenigstens entschieden nicht mehr als in
Preußen. Entweder ist also der ganze Ueberwachungsmechanismus nicht
nöthig, oder in Preußen sind die Beamten unzuverlässiger als bei uns/'

Andere meinten wieder, in dem Verlangen des unbedingten Gehorsams,
das manche Oberbeamte ihren Untergebenen gegenüber besonders streng geltend
machten, so wie in dem Mißtrauen, das man officiell jedem Unterthanen
gegenüber zur Schau trage, zeige sich der slavische Zug in dem Charakter
des preußischen Staates. Den unordentlichen, pflichtvergessenen Slaven
gegenüber sei eine solche stramme Zucht nöthig gewesen und noch nöthig.
Den ersten Anforderungen an ein für Deutsche bestimmtes Regiment, daß
es der persönlichen Ueberzeugung, dem Individualismus Rechnung trage und
an das Pflichtgefühl des Einzelnen appellire. entspreche es nicht. Man sieht, die
phrasenhaften Anklagen, die namentlich in Süddeutschland gegen den preußischen
Staat und preußisches Wesen überhaupt gerichtet zu werden pflegen, fanden hier
Beistimmung, und zwar eine um so lebhaftere, als man sich glaubte auf Er¬
fahrungen berufen zu können, die man am eigenen Leibe gemacht habe.
Und doch, waren diese Erfahrungen exact beobachtet und auf ihren rechten
Ausgangspunkt zurückgeführt? Nach unserer Ueberzeugung mischt sich in
diesen Anklagen und Beschwerden Wahres und Falsches. Den kleinstaatlichen
Beamten war der Staatsbegriff vielfach ganz abhanden gekommen. Sie
waren und sind häusig ganz unfähig zu unterscheiden, ob irgend ein Gesetz
sür einen Kreis oder einen Großstaat passend ist oder nicht. Ihr Ge¬
sichtskreis war und ist eben ein zu enger. Der merkwürdige Widerspruch,
welcher bei der großen Masse unseres Volkes sich gar häufig findet, und
der sich nur aus der Jahrhunderte langen Entwöhnung von activer
Theilnahme an wirklichen, nationalen Staatsgeschäften erklären läßt, jene
Geltendmachung der beschränktesten Kirchthurmsinteressen auf der einen, und
die Hervorhebung und Anpreisung eines von allen gegebenen Verhältnissen
absehenden Staatsideals auf der anderen Seite, erschwerte auch bei uns
eine gerechte Beurtheilung der neuen Regierung. Doch darf auch nicht
geleugnet werden, daß von preußischer Seite gar manches hätte unterlassen


Das verspürten denn in Hessen die Beamten sehr rasch, und auch die
steuerzahlenden wußten etwas davon zu erzählen. Denn ganz abgesehen von
der Vervielfältigung der Schreiberei, durch die in allen Bureaux die genauere
Controle angeblich nöthig gemacht wurde, fanden sich viel alte Beamte, die
in Ehren grau geworden waren, durch das Mißtrauen, das man ihnen, wie
sie meinten, persönlich entgegensetzte, gekränkt und verstimmt. „In Preußen",
so raisonnirte man. „wird jeder Mensch officiell als Spitzbube angesehen,
und wenn er gar ein Beamter ist, als ein ganz gefährlicher. Wozu die un¬
endlichen Schreibereien und Revisionen? Es ist früher bei uns nicht viel
gestohlen und betrogen worden, wenigstens entschieden nicht mehr als in
Preußen. Entweder ist also der ganze Ueberwachungsmechanismus nicht
nöthig, oder in Preußen sind die Beamten unzuverlässiger als bei uns/'

Andere meinten wieder, in dem Verlangen des unbedingten Gehorsams,
das manche Oberbeamte ihren Untergebenen gegenüber besonders streng geltend
machten, so wie in dem Mißtrauen, das man officiell jedem Unterthanen
gegenüber zur Schau trage, zeige sich der slavische Zug in dem Charakter
des preußischen Staates. Den unordentlichen, pflichtvergessenen Slaven
gegenüber sei eine solche stramme Zucht nöthig gewesen und noch nöthig.
Den ersten Anforderungen an ein für Deutsche bestimmtes Regiment, daß
es der persönlichen Ueberzeugung, dem Individualismus Rechnung trage und
an das Pflichtgefühl des Einzelnen appellire. entspreche es nicht. Man sieht, die
phrasenhaften Anklagen, die namentlich in Süddeutschland gegen den preußischen
Staat und preußisches Wesen überhaupt gerichtet zu werden pflegen, fanden hier
Beistimmung, und zwar eine um so lebhaftere, als man sich glaubte auf Er¬
fahrungen berufen zu können, die man am eigenen Leibe gemacht habe.
Und doch, waren diese Erfahrungen exact beobachtet und auf ihren rechten
Ausgangspunkt zurückgeführt? Nach unserer Ueberzeugung mischt sich in
diesen Anklagen und Beschwerden Wahres und Falsches. Den kleinstaatlichen
Beamten war der Staatsbegriff vielfach ganz abhanden gekommen. Sie
waren und sind häusig ganz unfähig zu unterscheiden, ob irgend ein Gesetz
sür einen Kreis oder einen Großstaat passend ist oder nicht. Ihr Ge¬
sichtskreis war und ist eben ein zu enger. Der merkwürdige Widerspruch,
welcher bei der großen Masse unseres Volkes sich gar häufig findet, und
der sich nur aus der Jahrhunderte langen Entwöhnung von activer
Theilnahme an wirklichen, nationalen Staatsgeschäften erklären läßt, jene
Geltendmachung der beschränktesten Kirchthurmsinteressen auf der einen, und
die Hervorhebung und Anpreisung eines von allen gegebenen Verhältnissen
absehenden Staatsideals auf der anderen Seite, erschwerte auch bei uns
eine gerechte Beurtheilung der neuen Regierung. Doch darf auch nicht
geleugnet werden, daß von preußischer Seite gar manches hätte unterlassen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/318>, abgerufen am 24.07.2024.