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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Strenge, mit der Recht und Gerechtigkeit hier zu allen Zeiten gehandhabt
worden sei, wie wenig man seit den ältesten Zeiten hier geneigt gewesen,
Pfaffen und Pfaffenregiment zu ertragen, davon wurden gleichfalls nicht we¬
nige Beispiele berichtet. Aber die jüngere, seit 1815 ungefähr geborene Ge¬
neration wurde dem hessischen Staatsparticularismus entfremdet. Die
Mißregierungen von Vater, Sohn und Enkel hatten denselben allmälig. aber
darum um so unrettbarer erstickt. Gerade aber auch als hätte das "Haus
Brabant" es darauf abgesehen, alle die vielen und zarten Bande zu zer¬
reißen, die es seit sechs Jahrhunderten mit dem hessischen Volke verbanden,
gerirten sich seine Söhne in vier aufeinander folgenden Regierungen von
jenem Menschenhändler an bis auf den letzten Kurfürsten, der alle an klein¬
licher Bosheit und Eigensinn übertraf. Und wenn man in die Zukunft
blickte, um sich mit ihr für die Misere der Gegenwart zu trösten, so eröffne-
ten sich noch unerfreulichere Perspectiven. Der Landgraf Friedrich von Hessen-
Rumpenheim, welcher, da die mit der separirten Frau des Lieutenants Leh-
mann, Gertruds geb. Falkenberg, erzeugten Söhne des regierenden Kur¬
fürsten nicht successionsfähig waren, als legitimer Nachfolger uns in sicherer
Aussicht stand, erschien Allen, die ihn kennen zu lernen Gelegenheit hatten,
als ein zur Regierung eines auch noch so kleinen Staates ganz untauglicher
Herr. Sein ganz kopfloses kindisches Benehmen in der Krisis vor dem Aus¬
bruch des Krieges von 1866 hat denn auch dieses Urtheil völlig gerecht¬
fertigt und die Meinung derer bestätigt, die da behaupteten, daß, seien die
Hessen von Kurfürst Friedrich Wilhelm mit Ruthen gestrichen worden, Kur¬
fürst Friedrich sie mit Scorpionen züchtigen werde. -- Die unerträglichen,
friedlosen Zustände während einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Regie¬
rung und die trostlose Aussicht auf eine noch unerquicklichere Zukunft hatten
in Hessen nach und nach alle Gemüther dem Fürstenhause in dem Maße ent¬
fremdet, daß seine Entfernung im Jahre 1866 bei dem größten Theil aller
politisch Zurechnungsfähigen das Gefühl einer Erlösung, nicht das einer
schmerzlichen Trennung verbreitete. Nur wenige Hofschranzen und die An¬
hänger jener auch bei uns "kleinen aber mächtigen Partei", die das Fürsten¬
haus seinem Volke hatte entfremden helfen und dasselbe in eine Politik ge¬
trieben hatte, die seinen besten, Jahrhunderte lang aufrecht erhaltenen Tra¬
ditionen schnurstracks zuwiderlief, gaben Beweise einer Anhänglichkeit an den
Vertriebenen, die sich jedoch mehr in Verwünschungen gegen den "Kronen¬
räuber", als in aufopferungsfähiger Hingabe aussprachen.

Und doch, als es nun sicher feststand, daß unser kleines aber altes,
häufig verklagtes aber doch geliebtes Staatswesen dem Untergang verfallen
sei, war die Stimmung ganz im Allgemeinen nichts weniger als eine ge¬
hobene und freudige. Ganz von denen abgesehen, die hier durch den Verlust


Grenzboten II. 1869. 39

Strenge, mit der Recht und Gerechtigkeit hier zu allen Zeiten gehandhabt
worden sei, wie wenig man seit den ältesten Zeiten hier geneigt gewesen,
Pfaffen und Pfaffenregiment zu ertragen, davon wurden gleichfalls nicht we¬
nige Beispiele berichtet. Aber die jüngere, seit 1815 ungefähr geborene Ge¬
neration wurde dem hessischen Staatsparticularismus entfremdet. Die
Mißregierungen von Vater, Sohn und Enkel hatten denselben allmälig. aber
darum um so unrettbarer erstickt. Gerade aber auch als hätte das „Haus
Brabant" es darauf abgesehen, alle die vielen und zarten Bande zu zer¬
reißen, die es seit sechs Jahrhunderten mit dem hessischen Volke verbanden,
gerirten sich seine Söhne in vier aufeinander folgenden Regierungen von
jenem Menschenhändler an bis auf den letzten Kurfürsten, der alle an klein¬
licher Bosheit und Eigensinn übertraf. Und wenn man in die Zukunft
blickte, um sich mit ihr für die Misere der Gegenwart zu trösten, so eröffne-
ten sich noch unerfreulichere Perspectiven. Der Landgraf Friedrich von Hessen-
Rumpenheim, welcher, da die mit der separirten Frau des Lieutenants Leh-
mann, Gertruds geb. Falkenberg, erzeugten Söhne des regierenden Kur¬
fürsten nicht successionsfähig waren, als legitimer Nachfolger uns in sicherer
Aussicht stand, erschien Allen, die ihn kennen zu lernen Gelegenheit hatten,
als ein zur Regierung eines auch noch so kleinen Staates ganz untauglicher
Herr. Sein ganz kopfloses kindisches Benehmen in der Krisis vor dem Aus¬
bruch des Krieges von 1866 hat denn auch dieses Urtheil völlig gerecht¬
fertigt und die Meinung derer bestätigt, die da behaupteten, daß, seien die
Hessen von Kurfürst Friedrich Wilhelm mit Ruthen gestrichen worden, Kur¬
fürst Friedrich sie mit Scorpionen züchtigen werde. — Die unerträglichen,
friedlosen Zustände während einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Regie¬
rung und die trostlose Aussicht auf eine noch unerquicklichere Zukunft hatten
in Hessen nach und nach alle Gemüther dem Fürstenhause in dem Maße ent¬
fremdet, daß seine Entfernung im Jahre 1866 bei dem größten Theil aller
politisch Zurechnungsfähigen das Gefühl einer Erlösung, nicht das einer
schmerzlichen Trennung verbreitete. Nur wenige Hofschranzen und die An¬
hänger jener auch bei uns „kleinen aber mächtigen Partei", die das Fürsten¬
haus seinem Volke hatte entfremden helfen und dasselbe in eine Politik ge¬
trieben hatte, die seinen besten, Jahrhunderte lang aufrecht erhaltenen Tra¬
ditionen schnurstracks zuwiderlief, gaben Beweise einer Anhänglichkeit an den
Vertriebenen, die sich jedoch mehr in Verwünschungen gegen den „Kronen¬
räuber", als in aufopferungsfähiger Hingabe aussprachen.

Und doch, als es nun sicher feststand, daß unser kleines aber altes,
häufig verklagtes aber doch geliebtes Staatswesen dem Untergang verfallen
sei, war die Stimmung ganz im Allgemeinen nichts weniger als eine ge¬
hobene und freudige. Ganz von denen abgesehen, die hier durch den Verlust


Grenzboten II. 1869. 39
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[0313] Strenge, mit der Recht und Gerechtigkeit hier zu allen Zeiten gehandhabt worden sei, wie wenig man seit den ältesten Zeiten hier geneigt gewesen, Pfaffen und Pfaffenregiment zu ertragen, davon wurden gleichfalls nicht we¬ nige Beispiele berichtet. Aber die jüngere, seit 1815 ungefähr geborene Ge¬ neration wurde dem hessischen Staatsparticularismus entfremdet. Die Mißregierungen von Vater, Sohn und Enkel hatten denselben allmälig. aber darum um so unrettbarer erstickt. Gerade aber auch als hätte das „Haus Brabant" es darauf abgesehen, alle die vielen und zarten Bande zu zer¬ reißen, die es seit sechs Jahrhunderten mit dem hessischen Volke verbanden, gerirten sich seine Söhne in vier aufeinander folgenden Regierungen von jenem Menschenhändler an bis auf den letzten Kurfürsten, der alle an klein¬ licher Bosheit und Eigensinn übertraf. Und wenn man in die Zukunft blickte, um sich mit ihr für die Misere der Gegenwart zu trösten, so eröffne- ten sich noch unerfreulichere Perspectiven. Der Landgraf Friedrich von Hessen- Rumpenheim, welcher, da die mit der separirten Frau des Lieutenants Leh- mann, Gertruds geb. Falkenberg, erzeugten Söhne des regierenden Kur¬ fürsten nicht successionsfähig waren, als legitimer Nachfolger uns in sicherer Aussicht stand, erschien Allen, die ihn kennen zu lernen Gelegenheit hatten, als ein zur Regierung eines auch noch so kleinen Staates ganz untauglicher Herr. Sein ganz kopfloses kindisches Benehmen in der Krisis vor dem Aus¬ bruch des Krieges von 1866 hat denn auch dieses Urtheil völlig gerecht¬ fertigt und die Meinung derer bestätigt, die da behaupteten, daß, seien die Hessen von Kurfürst Friedrich Wilhelm mit Ruthen gestrichen worden, Kur¬ fürst Friedrich sie mit Scorpionen züchtigen werde. — Die unerträglichen, friedlosen Zustände während einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Regie¬ rung und die trostlose Aussicht auf eine noch unerquicklichere Zukunft hatten in Hessen nach und nach alle Gemüther dem Fürstenhause in dem Maße ent¬ fremdet, daß seine Entfernung im Jahre 1866 bei dem größten Theil aller politisch Zurechnungsfähigen das Gefühl einer Erlösung, nicht das einer schmerzlichen Trennung verbreitete. Nur wenige Hofschranzen und die An¬ hänger jener auch bei uns „kleinen aber mächtigen Partei", die das Fürsten¬ haus seinem Volke hatte entfremden helfen und dasselbe in eine Politik ge¬ trieben hatte, die seinen besten, Jahrhunderte lang aufrecht erhaltenen Tra¬ ditionen schnurstracks zuwiderlief, gaben Beweise einer Anhänglichkeit an den Vertriebenen, die sich jedoch mehr in Verwünschungen gegen den „Kronen¬ räuber", als in aufopferungsfähiger Hingabe aussprachen. Und doch, als es nun sicher feststand, daß unser kleines aber altes, häufig verklagtes aber doch geliebtes Staatswesen dem Untergang verfallen sei, war die Stimmung ganz im Allgemeinen nichts weniger als eine ge¬ hobene und freudige. Ganz von denen abgesehen, die hier durch den Verlust Grenzboten II. 1869. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/313>, abgerufen am 24.07.2024.