Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lich auf einer idealen Basis: auf ihrem Verhältniß zur Wahrheit, d. h. den
Wirklichen Interessen unseres Volkes. Werden diese nun geschädigt und
wir wollten aus allzu lebhafter Abneigung gegen die particularistischen
Bestrebungen die Regierungsmaßregeln blos deshalb vertheidigen, weil sie
eben von den Particularisten angegriffen würden, so würde es nicht lange
Zeit dauern, und die große Menge des Volkes, die keinen allzu lebhaften
Antheil an den nationalen Fragen des Tages nimmt, würde unmerklich, aber
nur um so sicherer sich der gewohnten Führerschaft entziehen. Denn machen
wir uns nur darüber keine Illusionen, daß die große Masse auch bei uns
bei einem lang dauernden Conflict zwischen den Anforderungen, die im
Namen einer nationalen, d. h. in diesem Falle idealen Politik an sie ge¬
stellt werden, und den nächsten praktischen Interessen des täglichen Lebens
sehr rasch jene Anforderungen als unberechtigt ansehen und sich auf Seite
derer stellen wird, die ihr gegen Steuerüberbürdung, schlechte Justiz
u. tgi. Hülfe zu bringen versprechen. Das ist aber eben die Schwierigkeit
in unserer Situation, daß dieser Widerspruch, der an sich durch nichts begrün¬
det ist, durch unsere Regierung nicht nur nicht weggeschafft, sondern gleich¬
sam als eine für die Existenz des Ganzen wohlthätige Einrichtung offen ge¬
halten wird. Denn so und nicht anders können wir bei ruhiger Betrach¬
tung die Sachlage beurtheilen. Und es ist das nicht unsere Privatmeinung.

Der nationale Gedanke war hier zu Lande so tief in die Ge¬
müther aller derer eingepflanzt, die sich über die vorübergehenden Stim¬
mungen des Tages und die allerprimitivsten Interessen des Lebens zu er¬
heben im Stande sind, und so viel hatte man doch auch seit 1848 von den
Wegen, ihn zu verwirklichen, kennen gelernt, daß die verkehrte Entgegen¬
setzung von kleinstaatlicher Freiheit und großstaatlicher Knechtschaft, die thö¬
richte Trennung von Einheit und Freiheit überhaupt, früher nicht den min¬
desten Eindruck mehr machte. Aber jetzt fragen sich doch Manche, die nichts
weniger als Particularisten sind, ob man nicht doch die Anfänge der deut¬
schen Einheit mit zu großen Opfern erkauft habe, und nur die Erwägung
vermag sie von pessimistischen Speculationen abzuhalten, daß der erlittene
Verlust mit dem großen Gewinn nicht innerlich und nothwendig verbunden
war, sondern daß nur eine unglückliche Complication von Verhältnissen uns
jene an sich nicht nothwendigen Nachtheile gebracht hat, die uns die Freude
an den großen nationalen Erfolgen allzusehr vergällen. Ist aber hiermit
die Stimmung des größten Theiles der intelligenten Bevölkerung Hessens
richtig gezeichnet, und ich glaube dieses versichern zu können, so steht es mit
der wirklichen Einverleibung des hessischen Stammes in den preußischen
Staatskörper nicht allzu günstig. Denn das wenigstens bleibt wahr, daß


lich auf einer idealen Basis: auf ihrem Verhältniß zur Wahrheit, d. h. den
Wirklichen Interessen unseres Volkes. Werden diese nun geschädigt und
wir wollten aus allzu lebhafter Abneigung gegen die particularistischen
Bestrebungen die Regierungsmaßregeln blos deshalb vertheidigen, weil sie
eben von den Particularisten angegriffen würden, so würde es nicht lange
Zeit dauern, und die große Menge des Volkes, die keinen allzu lebhaften
Antheil an den nationalen Fragen des Tages nimmt, würde unmerklich, aber
nur um so sicherer sich der gewohnten Führerschaft entziehen. Denn machen
wir uns nur darüber keine Illusionen, daß die große Masse auch bei uns
bei einem lang dauernden Conflict zwischen den Anforderungen, die im
Namen einer nationalen, d. h. in diesem Falle idealen Politik an sie ge¬
stellt werden, und den nächsten praktischen Interessen des täglichen Lebens
sehr rasch jene Anforderungen als unberechtigt ansehen und sich auf Seite
derer stellen wird, die ihr gegen Steuerüberbürdung, schlechte Justiz
u. tgi. Hülfe zu bringen versprechen. Das ist aber eben die Schwierigkeit
in unserer Situation, daß dieser Widerspruch, der an sich durch nichts begrün¬
det ist, durch unsere Regierung nicht nur nicht weggeschafft, sondern gleich¬
sam als eine für die Existenz des Ganzen wohlthätige Einrichtung offen ge¬
halten wird. Denn so und nicht anders können wir bei ruhiger Betrach¬
tung die Sachlage beurtheilen. Und es ist das nicht unsere Privatmeinung.

Der nationale Gedanke war hier zu Lande so tief in die Ge¬
müther aller derer eingepflanzt, die sich über die vorübergehenden Stim¬
mungen des Tages und die allerprimitivsten Interessen des Lebens zu er¬
heben im Stande sind, und so viel hatte man doch auch seit 1848 von den
Wegen, ihn zu verwirklichen, kennen gelernt, daß die verkehrte Entgegen¬
setzung von kleinstaatlicher Freiheit und großstaatlicher Knechtschaft, die thö¬
richte Trennung von Einheit und Freiheit überhaupt, früher nicht den min¬
desten Eindruck mehr machte. Aber jetzt fragen sich doch Manche, die nichts
weniger als Particularisten sind, ob man nicht doch die Anfänge der deut¬
schen Einheit mit zu großen Opfern erkauft habe, und nur die Erwägung
vermag sie von pessimistischen Speculationen abzuhalten, daß der erlittene
Verlust mit dem großen Gewinn nicht innerlich und nothwendig verbunden
war, sondern daß nur eine unglückliche Complication von Verhältnissen uns
jene an sich nicht nothwendigen Nachtheile gebracht hat, die uns die Freude
an den großen nationalen Erfolgen allzusehr vergällen. Ist aber hiermit
die Stimmung des größten Theiles der intelligenten Bevölkerung Hessens
richtig gezeichnet, und ich glaube dieses versichern zu können, so steht es mit
der wirklichen Einverleibung des hessischen Stammes in den preußischen
Staatskörper nicht allzu günstig. Denn das wenigstens bleibt wahr, daß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0311" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120998"/>
            <p xml:id="ID_973" prev="#ID_972"> lich auf einer idealen Basis: auf ihrem Verhältniß zur Wahrheit, d. h. den<lb/>
Wirklichen Interessen unseres Volkes. Werden diese nun geschädigt und<lb/>
wir wollten aus allzu lebhafter Abneigung gegen die particularistischen<lb/>
Bestrebungen die Regierungsmaßregeln blos deshalb vertheidigen, weil sie<lb/>
eben von den Particularisten angegriffen würden, so würde es nicht lange<lb/>
Zeit dauern, und die große Menge des Volkes, die keinen allzu lebhaften<lb/>
Antheil an den nationalen Fragen des Tages nimmt, würde unmerklich, aber<lb/>
nur um so sicherer sich der gewohnten Führerschaft entziehen. Denn machen<lb/>
wir uns nur darüber keine Illusionen, daß die große Masse auch bei uns<lb/>
bei einem lang dauernden Conflict zwischen den Anforderungen, die im<lb/>
Namen einer nationalen, d. h. in diesem Falle idealen Politik an sie ge¬<lb/>
stellt werden, und den nächsten praktischen Interessen des täglichen Lebens<lb/>
sehr rasch jene Anforderungen als unberechtigt ansehen und sich auf Seite<lb/>
derer stellen wird, die ihr gegen Steuerüberbürdung, schlechte Justiz<lb/>
u. tgi. Hülfe zu bringen versprechen. Das ist aber eben die Schwierigkeit<lb/>
in unserer Situation, daß dieser Widerspruch, der an sich durch nichts begrün¬<lb/>
det ist, durch unsere Regierung nicht nur nicht weggeschafft, sondern gleich¬<lb/>
sam als eine für die Existenz des Ganzen wohlthätige Einrichtung offen ge¬<lb/>
halten wird. Denn so und nicht anders können wir bei ruhiger Betrach¬<lb/>
tung die Sachlage beurtheilen.  Und es ist das nicht unsere Privatmeinung.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_974" next="#ID_975"> Der nationale Gedanke war hier zu Lande so tief in die Ge¬<lb/>
müther aller derer eingepflanzt, die sich über die vorübergehenden Stim¬<lb/>
mungen des Tages und die allerprimitivsten Interessen des Lebens zu er¬<lb/>
heben im Stande sind, und so viel hatte man doch auch seit 1848 von den<lb/>
Wegen, ihn zu verwirklichen, kennen gelernt, daß die verkehrte Entgegen¬<lb/>
setzung von kleinstaatlicher Freiheit und großstaatlicher Knechtschaft, die thö¬<lb/>
richte Trennung von Einheit und Freiheit überhaupt, früher nicht den min¬<lb/>
desten Eindruck mehr machte. Aber jetzt fragen sich doch Manche, die nichts<lb/>
weniger als Particularisten sind, ob man nicht doch die Anfänge der deut¬<lb/>
schen Einheit mit zu großen Opfern erkauft habe, und nur die Erwägung<lb/>
vermag sie von pessimistischen Speculationen abzuhalten, daß der erlittene<lb/>
Verlust mit dem großen Gewinn nicht innerlich und nothwendig verbunden<lb/>
war, sondern daß nur eine unglückliche Complication von Verhältnissen uns<lb/>
jene an sich nicht nothwendigen Nachtheile gebracht hat, die uns die Freude<lb/>
an den großen nationalen Erfolgen allzusehr vergällen. Ist aber hiermit<lb/>
die Stimmung des größten Theiles der intelligenten Bevölkerung Hessens<lb/>
richtig gezeichnet, und ich glaube dieses versichern zu können, so steht es mit<lb/>
der wirklichen Einverleibung des hessischen Stammes in den preußischen<lb/>
Staatskörper nicht allzu günstig.  Denn das wenigstens bleibt wahr, daß</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0311] lich auf einer idealen Basis: auf ihrem Verhältniß zur Wahrheit, d. h. den Wirklichen Interessen unseres Volkes. Werden diese nun geschädigt und wir wollten aus allzu lebhafter Abneigung gegen die particularistischen Bestrebungen die Regierungsmaßregeln blos deshalb vertheidigen, weil sie eben von den Particularisten angegriffen würden, so würde es nicht lange Zeit dauern, und die große Menge des Volkes, die keinen allzu lebhaften Antheil an den nationalen Fragen des Tages nimmt, würde unmerklich, aber nur um so sicherer sich der gewohnten Führerschaft entziehen. Denn machen wir uns nur darüber keine Illusionen, daß die große Masse auch bei uns bei einem lang dauernden Conflict zwischen den Anforderungen, die im Namen einer nationalen, d. h. in diesem Falle idealen Politik an sie ge¬ stellt werden, und den nächsten praktischen Interessen des täglichen Lebens sehr rasch jene Anforderungen als unberechtigt ansehen und sich auf Seite derer stellen wird, die ihr gegen Steuerüberbürdung, schlechte Justiz u. tgi. Hülfe zu bringen versprechen. Das ist aber eben die Schwierigkeit in unserer Situation, daß dieser Widerspruch, der an sich durch nichts begrün¬ det ist, durch unsere Regierung nicht nur nicht weggeschafft, sondern gleich¬ sam als eine für die Existenz des Ganzen wohlthätige Einrichtung offen ge¬ halten wird. Denn so und nicht anders können wir bei ruhiger Betrach¬ tung die Sachlage beurtheilen. Und es ist das nicht unsere Privatmeinung. Der nationale Gedanke war hier zu Lande so tief in die Ge¬ müther aller derer eingepflanzt, die sich über die vorübergehenden Stim¬ mungen des Tages und die allerprimitivsten Interessen des Lebens zu er¬ heben im Stande sind, und so viel hatte man doch auch seit 1848 von den Wegen, ihn zu verwirklichen, kennen gelernt, daß die verkehrte Entgegen¬ setzung von kleinstaatlicher Freiheit und großstaatlicher Knechtschaft, die thö¬ richte Trennung von Einheit und Freiheit überhaupt, früher nicht den min¬ desten Eindruck mehr machte. Aber jetzt fragen sich doch Manche, die nichts weniger als Particularisten sind, ob man nicht doch die Anfänge der deut¬ schen Einheit mit zu großen Opfern erkauft habe, und nur die Erwägung vermag sie von pessimistischen Speculationen abzuhalten, daß der erlittene Verlust mit dem großen Gewinn nicht innerlich und nothwendig verbunden war, sondern daß nur eine unglückliche Complication von Verhältnissen uns jene an sich nicht nothwendigen Nachtheile gebracht hat, die uns die Freude an den großen nationalen Erfolgen allzusehr vergällen. Ist aber hiermit die Stimmung des größten Theiles der intelligenten Bevölkerung Hessens richtig gezeichnet, und ich glaube dieses versichern zu können, so steht es mit der wirklichen Einverleibung des hessischen Stammes in den preußischen Staatskörper nicht allzu günstig. Denn das wenigstens bleibt wahr, daß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/311
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/311>, abgerufen am 24.07.2024.