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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Auch außerhalb des Bundes ist das Bedürfniß des Friedens weit
obenan; fast alle Großstaaten sind durch ernste Verwickelungen in An¬
spruch genommen, am unbequemsten für uns ist, daß der alte Zwist zwi¬
schen England und den Vereinigten Staaten gerade jetzt wieder aufleben
mußte. In Wahrheit kommt uns die leidige Alabama-Frage fast ebenso
unbequem, als unsern Vettern in England. Denn es ist klar, daß
jene heftig aufgeregte und maßlose Entschädigungsforderung, welche
amerikanische Staatsmänner erheben, die Wachsamkeit zu vermindern droht,
mit welcher England die Interessen Belgiens gegen die Einfälle des kaiser¬
lichen Frankreichs vertrat. Nun werden zwar zu Washington alle politischen
Gerichte mit mehr Aufwand von Feuer und Rauch zubereitet, als anderswo,
man schätzt dort lautes Geräusch vor den Verhandlungen, um den Gegner
zu Concessionen bereit zu machen. Aber die Hoffnung ist vergeblich, daß
der neue Präsident selbständige Meinung und Mäßigung dem aufbrennenden
Eifer entgegenstellen werde. General Grant ist kein Fürst einer festgewurzel¬
ten Dynastie, er ist zudem neuer Präsident, welcher, wie die Verhältnisse
dort sind, seine ganze Popularität und alle Hoffnung auf gedeihliche Wirk¬
samkeit in die Schanze schlagen würde, wenn er jetzt eigenwillig den ent¬
stehenden Brand zu tilgen suchte. Dergleichen aufgehende Fragen werden
in Amerika wie ein Naturproceß, vielleicht wie eine Krankheit betrachtet,
welchen man bis zu einem gewissen Grade ihren Verlauf lassen muß. Was
der Präsident thun kann, wenn er ein weiser Staatsmann ist, wird er nur durch
nüchterne Beobachtung der Symptome erweisen und durch geschicktes Abwarten
des rechten Zeitpunktes, wo die wiederkehrende Besonnenheit seiner Wähler
ihm die Möglichkeit eigener Entscheidung gewährt. Und deshalb wird diese
Frage wahrscheinlich noch viel Glut und Dampf aufregen und in England
den Whigs noch eine Weile das Herz schwer machen, denen kein gefährliche¬
rer Einbruch des Auslandes kommen konnte, um ihre Siege in der irischen
Frage zu verstören.

Wir finden keinen Beweis für den bereits geäußerten Argwohn, daß
Kaiser Napoleon diesen Sturm gegen England erregt habe. Aber willkommen
ist er ihm ohne Zweifel. Glücklicherweise bedrängen ihn selbst die Wahlen,
denn seit dem Staatsstreich war das Antlitz, welches Frankreich ihm bot,
noch niemals so voll Mißvergnügen und Aufregung als jetzt. Demungeachtet
wurzelt er weit fester in dem französischen Boden, als seine Gegner meinen,
und nichts berechtigt zu der Annahme, daß seine umsichtige Klugheit vermin¬
dert ist. Das große Buch der Renten, die Freihandelspolttik und die neue
Heeresverfassung haben Frankreich in seiner neuen Aera zu etwas ganz An¬
derem gemacht, als es vorher war, und die Rechnung auf die regelmäßige
Wiederkehr eines Revolutionsjahres dürfte sich weit unsicherer erweisen, als


Auch außerhalb des Bundes ist das Bedürfniß des Friedens weit
obenan; fast alle Großstaaten sind durch ernste Verwickelungen in An¬
spruch genommen, am unbequemsten für uns ist, daß der alte Zwist zwi¬
schen England und den Vereinigten Staaten gerade jetzt wieder aufleben
mußte. In Wahrheit kommt uns die leidige Alabama-Frage fast ebenso
unbequem, als unsern Vettern in England. Denn es ist klar, daß
jene heftig aufgeregte und maßlose Entschädigungsforderung, welche
amerikanische Staatsmänner erheben, die Wachsamkeit zu vermindern droht,
mit welcher England die Interessen Belgiens gegen die Einfälle des kaiser¬
lichen Frankreichs vertrat. Nun werden zwar zu Washington alle politischen
Gerichte mit mehr Aufwand von Feuer und Rauch zubereitet, als anderswo,
man schätzt dort lautes Geräusch vor den Verhandlungen, um den Gegner
zu Concessionen bereit zu machen. Aber die Hoffnung ist vergeblich, daß
der neue Präsident selbständige Meinung und Mäßigung dem aufbrennenden
Eifer entgegenstellen werde. General Grant ist kein Fürst einer festgewurzel¬
ten Dynastie, er ist zudem neuer Präsident, welcher, wie die Verhältnisse
dort sind, seine ganze Popularität und alle Hoffnung auf gedeihliche Wirk¬
samkeit in die Schanze schlagen würde, wenn er jetzt eigenwillig den ent¬
stehenden Brand zu tilgen suchte. Dergleichen aufgehende Fragen werden
in Amerika wie ein Naturproceß, vielleicht wie eine Krankheit betrachtet,
welchen man bis zu einem gewissen Grade ihren Verlauf lassen muß. Was
der Präsident thun kann, wenn er ein weiser Staatsmann ist, wird er nur durch
nüchterne Beobachtung der Symptome erweisen und durch geschicktes Abwarten
des rechten Zeitpunktes, wo die wiederkehrende Besonnenheit seiner Wähler
ihm die Möglichkeit eigener Entscheidung gewährt. Und deshalb wird diese
Frage wahrscheinlich noch viel Glut und Dampf aufregen und in England
den Whigs noch eine Weile das Herz schwer machen, denen kein gefährliche¬
rer Einbruch des Auslandes kommen konnte, um ihre Siege in der irischen
Frage zu verstören.

Wir finden keinen Beweis für den bereits geäußerten Argwohn, daß
Kaiser Napoleon diesen Sturm gegen England erregt habe. Aber willkommen
ist er ihm ohne Zweifel. Glücklicherweise bedrängen ihn selbst die Wahlen,
denn seit dem Staatsstreich war das Antlitz, welches Frankreich ihm bot,
noch niemals so voll Mißvergnügen und Aufregung als jetzt. Demungeachtet
wurzelt er weit fester in dem französischen Boden, als seine Gegner meinen,
und nichts berechtigt zu der Annahme, daß seine umsichtige Klugheit vermin¬
dert ist. Das große Buch der Renten, die Freihandelspolttik und die neue
Heeresverfassung haben Frankreich in seiner neuen Aera zu etwas ganz An¬
derem gemacht, als es vorher war, und die Rechnung auf die regelmäßige
Wiederkehr eines Revolutionsjahres dürfte sich weit unsicherer erweisen, als


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[0282] Auch außerhalb des Bundes ist das Bedürfniß des Friedens weit obenan; fast alle Großstaaten sind durch ernste Verwickelungen in An¬ spruch genommen, am unbequemsten für uns ist, daß der alte Zwist zwi¬ schen England und den Vereinigten Staaten gerade jetzt wieder aufleben mußte. In Wahrheit kommt uns die leidige Alabama-Frage fast ebenso unbequem, als unsern Vettern in England. Denn es ist klar, daß jene heftig aufgeregte und maßlose Entschädigungsforderung, welche amerikanische Staatsmänner erheben, die Wachsamkeit zu vermindern droht, mit welcher England die Interessen Belgiens gegen die Einfälle des kaiser¬ lichen Frankreichs vertrat. Nun werden zwar zu Washington alle politischen Gerichte mit mehr Aufwand von Feuer und Rauch zubereitet, als anderswo, man schätzt dort lautes Geräusch vor den Verhandlungen, um den Gegner zu Concessionen bereit zu machen. Aber die Hoffnung ist vergeblich, daß der neue Präsident selbständige Meinung und Mäßigung dem aufbrennenden Eifer entgegenstellen werde. General Grant ist kein Fürst einer festgewurzel¬ ten Dynastie, er ist zudem neuer Präsident, welcher, wie die Verhältnisse dort sind, seine ganze Popularität und alle Hoffnung auf gedeihliche Wirk¬ samkeit in die Schanze schlagen würde, wenn er jetzt eigenwillig den ent¬ stehenden Brand zu tilgen suchte. Dergleichen aufgehende Fragen werden in Amerika wie ein Naturproceß, vielleicht wie eine Krankheit betrachtet, welchen man bis zu einem gewissen Grade ihren Verlauf lassen muß. Was der Präsident thun kann, wenn er ein weiser Staatsmann ist, wird er nur durch nüchterne Beobachtung der Symptome erweisen und durch geschicktes Abwarten des rechten Zeitpunktes, wo die wiederkehrende Besonnenheit seiner Wähler ihm die Möglichkeit eigener Entscheidung gewährt. Und deshalb wird diese Frage wahrscheinlich noch viel Glut und Dampf aufregen und in England den Whigs noch eine Weile das Herz schwer machen, denen kein gefährliche¬ rer Einbruch des Auslandes kommen konnte, um ihre Siege in der irischen Frage zu verstören. Wir finden keinen Beweis für den bereits geäußerten Argwohn, daß Kaiser Napoleon diesen Sturm gegen England erregt habe. Aber willkommen ist er ihm ohne Zweifel. Glücklicherweise bedrängen ihn selbst die Wahlen, denn seit dem Staatsstreich war das Antlitz, welches Frankreich ihm bot, noch niemals so voll Mißvergnügen und Aufregung als jetzt. Demungeachtet wurzelt er weit fester in dem französischen Boden, als seine Gegner meinen, und nichts berechtigt zu der Annahme, daß seine umsichtige Klugheit vermin¬ dert ist. Das große Buch der Renten, die Freihandelspolttik und die neue Heeresverfassung haben Frankreich in seiner neuen Aera zu etwas ganz An¬ derem gemacht, als es vorher war, und die Rechnung auf die regelmäßige Wiederkehr eines Revolutionsjahres dürfte sich weit unsicherer erweisen, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/282>, abgerufen am 04.07.2024.