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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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"Hannoverschen Landeszeitung" wetteifernden Organs der großdeutschen De¬
mokratie. Keine Woche vergeht, ohne daß eine oder mehrere Nummern con-
fiscire oder der Redacteur vor Gericht gestellt würde. Ist es nur der Aus¬
fluß der größeren Sympathie für die kirchliche und politische Richtung der
feudalen Blätter -- abgesehen von ihrer Welfomanie -- oder ist es auch
das Gefühl, daß zwar von den welfischen Legitimisten niemals ernste Ge¬
fahr für den Staat zu besorgen ist, wohl aber von der Demokratie?

Und zweifellos ist die Thatsache, daß die demokratische Partei, die vor
der Annexion in Hannover kaum irgend Boden hatte, nicht unerheblich ge¬
wachsen ist und noch wächst. Leider können wir die Regierung nicht frei¬
sprechen von Schuld an diesem unerfreulichen Ergebniß. Mancher gute
Patriot, der im Jahre 1866 den Uebergang der Kleinstaaterei mit Freuden
begrüßte und warmen Herzens sich anschloß an den neuen Staat, ist durch
das geheimräthliche Borussificirungs - Streben in die Reihen der Gegner ge¬
drängt und erfüllt sich mit bitterem Groll wider die Leitung des Staats von
Berlin aus, sodaß dem haltungslosen Gemüth die alte Göttin der Ge¬
dankenlosigkeit, die deutsche Republik, es anthut.

Das nationale Gefühl der Verständigen zu wecken, ist nichts stärker
gewesen, als der Wegfall der obrigkeitlichen Trauscheins "Pflicht, das Gesetz
über'Freizügigkeit und das sogenannte Nothgewerbe-Gesetz. Das Bewußt¬
sein, diese früher so lange vergeblich ersehnten Wohlthaten der' neuen staat¬
lichen Ordnung zu verdanken, kettet die Masse des Volkes unmerklich fest an
den Staat. Die enragirten Welsen aber zu bekehren ist vergebliche Mühe;
sie zu bekämpfen, heißt ihnen unverdiente Wichtigkeit beilegen, und so ist
denn nunmehr die Zeit da, ohne Rücksicht auf sie zur Tagesordnung zu
schreiten.

Aber die Provinz sich selber und dem neuen Leben eines wirklichen Staats
zurückzugeben, dazu hat die Regierung bisher wenig geholfen. Zwar hat
man zu Berlin durch Ernennung des Grafen Stolberg, eines durchaus wohl¬
wollenden Mannes mit warmem Herzen für das Wohl der Provinz einen
guten Griff gethan, und dem Charakter und der persönlichen Liebenswürdig¬
keit desselben, wie seinem Eifer, mit allen Verhältnissen sich gründlich bekannt
zu machen, lassen auch die entschiedensten Gegner Gerechtigkeit widerfahren ;
aber es fehlt ihm noch an Geschäftskenntniß und vielleicht an rücksichtsloser
Energie, die nöthig wäre, um den Kampf einerseits mit der Fronde, anderer¬
seits mit der Berliner Bureaukratie durchfechten zu können. Von seinem Stell¬
vertreter, Präsident von Leipziger, weiß und schätzt man, daß er den Ober-
Präsidenten in seinen Bestrebungen für das Interesse der Provinz gegenüber
den Berliner Nivellirungs-Gelüsten redlich unterstützt.


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„Hannoverschen Landeszeitung" wetteifernden Organs der großdeutschen De¬
mokratie. Keine Woche vergeht, ohne daß eine oder mehrere Nummern con-
fiscire oder der Redacteur vor Gericht gestellt würde. Ist es nur der Aus¬
fluß der größeren Sympathie für die kirchliche und politische Richtung der
feudalen Blätter — abgesehen von ihrer Welfomanie — oder ist es auch
das Gefühl, daß zwar von den welfischen Legitimisten niemals ernste Ge¬
fahr für den Staat zu besorgen ist, wohl aber von der Demokratie?

Und zweifellos ist die Thatsache, daß die demokratische Partei, die vor
der Annexion in Hannover kaum irgend Boden hatte, nicht unerheblich ge¬
wachsen ist und noch wächst. Leider können wir die Regierung nicht frei¬
sprechen von Schuld an diesem unerfreulichen Ergebniß. Mancher gute
Patriot, der im Jahre 1866 den Uebergang der Kleinstaaterei mit Freuden
begrüßte und warmen Herzens sich anschloß an den neuen Staat, ist durch
das geheimräthliche Borussificirungs - Streben in die Reihen der Gegner ge¬
drängt und erfüllt sich mit bitterem Groll wider die Leitung des Staats von
Berlin aus, sodaß dem haltungslosen Gemüth die alte Göttin der Ge¬
dankenlosigkeit, die deutsche Republik, es anthut.

Das nationale Gefühl der Verständigen zu wecken, ist nichts stärker
gewesen, als der Wegfall der obrigkeitlichen Trauscheins «Pflicht, das Gesetz
über'Freizügigkeit und das sogenannte Nothgewerbe-Gesetz. Das Bewußt¬
sein, diese früher so lange vergeblich ersehnten Wohlthaten der' neuen staat¬
lichen Ordnung zu verdanken, kettet die Masse des Volkes unmerklich fest an
den Staat. Die enragirten Welsen aber zu bekehren ist vergebliche Mühe;
sie zu bekämpfen, heißt ihnen unverdiente Wichtigkeit beilegen, und so ist
denn nunmehr die Zeit da, ohne Rücksicht auf sie zur Tagesordnung zu
schreiten.

Aber die Provinz sich selber und dem neuen Leben eines wirklichen Staats
zurückzugeben, dazu hat die Regierung bisher wenig geholfen. Zwar hat
man zu Berlin durch Ernennung des Grafen Stolberg, eines durchaus wohl¬
wollenden Mannes mit warmem Herzen für das Wohl der Provinz einen
guten Griff gethan, und dem Charakter und der persönlichen Liebenswürdig¬
keit desselben, wie seinem Eifer, mit allen Verhältnissen sich gründlich bekannt
zu machen, lassen auch die entschiedensten Gegner Gerechtigkeit widerfahren ;
aber es fehlt ihm noch an Geschäftskenntniß und vielleicht an rücksichtsloser
Energie, die nöthig wäre, um den Kampf einerseits mit der Fronde, anderer¬
seits mit der Berliner Bureaukratie durchfechten zu können. Von seinem Stell¬
vertreter, Präsident von Leipziger, weiß und schätzt man, daß er den Ober-
Präsidenten in seinen Bestrebungen für das Interesse der Provinz gegenüber
den Berliner Nivellirungs-Gelüsten redlich unterstützt.


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[0243] „Hannoverschen Landeszeitung" wetteifernden Organs der großdeutschen De¬ mokratie. Keine Woche vergeht, ohne daß eine oder mehrere Nummern con- fiscire oder der Redacteur vor Gericht gestellt würde. Ist es nur der Aus¬ fluß der größeren Sympathie für die kirchliche und politische Richtung der feudalen Blätter — abgesehen von ihrer Welfomanie — oder ist es auch das Gefühl, daß zwar von den welfischen Legitimisten niemals ernste Ge¬ fahr für den Staat zu besorgen ist, wohl aber von der Demokratie? Und zweifellos ist die Thatsache, daß die demokratische Partei, die vor der Annexion in Hannover kaum irgend Boden hatte, nicht unerheblich ge¬ wachsen ist und noch wächst. Leider können wir die Regierung nicht frei¬ sprechen von Schuld an diesem unerfreulichen Ergebniß. Mancher gute Patriot, der im Jahre 1866 den Uebergang der Kleinstaaterei mit Freuden begrüßte und warmen Herzens sich anschloß an den neuen Staat, ist durch das geheimräthliche Borussificirungs - Streben in die Reihen der Gegner ge¬ drängt und erfüllt sich mit bitterem Groll wider die Leitung des Staats von Berlin aus, sodaß dem haltungslosen Gemüth die alte Göttin der Ge¬ dankenlosigkeit, die deutsche Republik, es anthut. Das nationale Gefühl der Verständigen zu wecken, ist nichts stärker gewesen, als der Wegfall der obrigkeitlichen Trauscheins «Pflicht, das Gesetz über'Freizügigkeit und das sogenannte Nothgewerbe-Gesetz. Das Bewußt¬ sein, diese früher so lange vergeblich ersehnten Wohlthaten der' neuen staat¬ lichen Ordnung zu verdanken, kettet die Masse des Volkes unmerklich fest an den Staat. Die enragirten Welsen aber zu bekehren ist vergebliche Mühe; sie zu bekämpfen, heißt ihnen unverdiente Wichtigkeit beilegen, und so ist denn nunmehr die Zeit da, ohne Rücksicht auf sie zur Tagesordnung zu schreiten. Aber die Provinz sich selber und dem neuen Leben eines wirklichen Staats zurückzugeben, dazu hat die Regierung bisher wenig geholfen. Zwar hat man zu Berlin durch Ernennung des Grafen Stolberg, eines durchaus wohl¬ wollenden Mannes mit warmem Herzen für das Wohl der Provinz einen guten Griff gethan, und dem Charakter und der persönlichen Liebenswürdig¬ keit desselben, wie seinem Eifer, mit allen Verhältnissen sich gründlich bekannt zu machen, lassen auch die entschiedensten Gegner Gerechtigkeit widerfahren ; aber es fehlt ihm noch an Geschäftskenntniß und vielleicht an rücksichtsloser Energie, die nöthig wäre, um den Kampf einerseits mit der Fronde, anderer¬ seits mit der Berliner Bureaukratie durchfechten zu können. Von seinem Stell¬ vertreter, Präsident von Leipziger, weiß und schätzt man, daß er den Ober- Präsidenten in seinen Bestrebungen für das Interesse der Provinz gegenüber den Berliner Nivellirungs-Gelüsten redlich unterstützt. 20*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/243>, abgerufen am 04.07.2024.