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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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weder ohne mein Vorwissen, oder auch wohl durch meine Nachgiebigkeit etwas
dergleichen zum Vorschein kam, jederzeit Unannehmlichkeiten entstanden sind,
die doch zuletzt auf mich zurückfielen, weil man allerdings von mir verlangen
kann, daß ich die Effecte zu beurtheilen wisse.

In gegenwärtigem Falle, besonders wie er jetzt eintritt, hätte ich man¬
ches Mißtönende zu befürchten, welches keineswegs aus der lobenswürdigen
Arbeit selbst, sondern aus Deutungen und augenblicklichen Eindrücken ent¬
springen könnte. Dieses habe, nach vielfacher Ueberlegung und genauer Be¬
trachtung des vorliegenden Falls mittheilen, und nichts mehr wünschen wollen,
als daß die angekündigten freyen und unbezüglichen Compositionen ebenso
glücklich in Anlage und Bearbeitung sein mögen, als das Gegenwärtige,
dessen Verdienste bei wiederholtem Lesen mich beinahe von meinen alt her¬
kömmlichen Ueberzeugungen hätten abbringen können.

Weimars den 4. May 1814.


ergebenst
Goethe.

Wir wissen nicht, an wen der Brief gerichtet ist, auch eine Musterung
der etwa gleichzeitigen Stücke gibt kein sicheres Resultat. Aber wir erkennen
wohl, wie Goethe zu selner peinlichen Vorsicht gekommen war. Er zumeist
War es gewesen, welcher in einer Wirklichkeit, die den Dichtern arm und ge¬
mein erschien, seinem Volke ein Reich des Schönen geöffnet hatte.

Es war in reizloser Landschaft ein fest umhegter Garten, in welchem er
mit Schiller Edles aus allen Perioden des Menschengeschlechts akklimatisirt.
das Schönste selbst geschaffen hatte. Auf dem Gebiete der Kunst und Wissen¬
schaft war damals alle Freiheit, Kühnheit, Größe der deutschen Natur zu
finden, nicht in den Intriguen der despotischen Staaten, nicht in den Greuel¬
thaten der Revolution, nicht bet den deutschen Heeren, welche ihre Profose
in den Wald sandten, Spießruthen zu schneiden, nicht bei den Pfaffen der
verschiedenen Kirchen, deren beste damals als Schweif hinter der Kantischen
Philosophie einHerzogen. Ihres Gegensatzes zu der Wirklichkeit waren die
großen Künstler jener Zeit sich immer stolz oder schmerzlich bewußt.

In der Hauptsache gilt die Ansicht Goethe's doch auch für uns Mo¬
derne. Es ist wahr, der Dichter hat das Recht, seine Stoffe aus jedem Ge¬
biet der realen Menschenwelt zu wählen, d. h. aus jedem Gebiete, welches
ihm möglich macht, den Stoff mit souverainer Freiheit zu idealistren, zu
einer einheitlichen Handlung zu gestalten, deren Verlauf sich aus sich selber
vollständig erklärt, deren Charaktere nur als Träger der Handlung durch die
Dichterarbeit sich menschlichen Antheil gewinnen. Die Bedeutung des Stoffes
in der Wirklichkeit, ja auch die realen Vorbilder der poetischen Charaktere
sollen im Kunstwerk unwesentlich werden gegenüber dieser Dichterarbeit, welche


weder ohne mein Vorwissen, oder auch wohl durch meine Nachgiebigkeit etwas
dergleichen zum Vorschein kam, jederzeit Unannehmlichkeiten entstanden sind,
die doch zuletzt auf mich zurückfielen, weil man allerdings von mir verlangen
kann, daß ich die Effecte zu beurtheilen wisse.

In gegenwärtigem Falle, besonders wie er jetzt eintritt, hätte ich man¬
ches Mißtönende zu befürchten, welches keineswegs aus der lobenswürdigen
Arbeit selbst, sondern aus Deutungen und augenblicklichen Eindrücken ent¬
springen könnte. Dieses habe, nach vielfacher Ueberlegung und genauer Be¬
trachtung des vorliegenden Falls mittheilen, und nichts mehr wünschen wollen,
als daß die angekündigten freyen und unbezüglichen Compositionen ebenso
glücklich in Anlage und Bearbeitung sein mögen, als das Gegenwärtige,
dessen Verdienste bei wiederholtem Lesen mich beinahe von meinen alt her¬
kömmlichen Ueberzeugungen hätten abbringen können.

Weimars den 4. May 1814.


ergebenst
Goethe.

Wir wissen nicht, an wen der Brief gerichtet ist, auch eine Musterung
der etwa gleichzeitigen Stücke gibt kein sicheres Resultat. Aber wir erkennen
wohl, wie Goethe zu selner peinlichen Vorsicht gekommen war. Er zumeist
War es gewesen, welcher in einer Wirklichkeit, die den Dichtern arm und ge¬
mein erschien, seinem Volke ein Reich des Schönen geöffnet hatte.

Es war in reizloser Landschaft ein fest umhegter Garten, in welchem er
mit Schiller Edles aus allen Perioden des Menschengeschlechts akklimatisirt.
das Schönste selbst geschaffen hatte. Auf dem Gebiete der Kunst und Wissen¬
schaft war damals alle Freiheit, Kühnheit, Größe der deutschen Natur zu
finden, nicht in den Intriguen der despotischen Staaten, nicht in den Greuel¬
thaten der Revolution, nicht bet den deutschen Heeren, welche ihre Profose
in den Wald sandten, Spießruthen zu schneiden, nicht bei den Pfaffen der
verschiedenen Kirchen, deren beste damals als Schweif hinter der Kantischen
Philosophie einHerzogen. Ihres Gegensatzes zu der Wirklichkeit waren die
großen Künstler jener Zeit sich immer stolz oder schmerzlich bewußt.

In der Hauptsache gilt die Ansicht Goethe's doch auch für uns Mo¬
derne. Es ist wahr, der Dichter hat das Recht, seine Stoffe aus jedem Ge¬
biet der realen Menschenwelt zu wählen, d. h. aus jedem Gebiete, welches
ihm möglich macht, den Stoff mit souverainer Freiheit zu idealistren, zu
einer einheitlichen Handlung zu gestalten, deren Verlauf sich aus sich selber
vollständig erklärt, deren Charaktere nur als Träger der Handlung durch die
Dichterarbeit sich menschlichen Antheil gewinnen. Die Bedeutung des Stoffes
in der Wirklichkeit, ja auch die realen Vorbilder der poetischen Charaktere
sollen im Kunstwerk unwesentlich werden gegenüber dieser Dichterarbeit, welche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/210>, abgerufen am 04.07.2024.