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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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allen Theilen über den Kopf. Nicht nur die Prediger, alle Behörden, stän¬
dische und staatliche Autoritäten Livlands wurden von Bittstellern be¬
lagert, welche sie unter heißen Thränen und unter Berufung auf die Mah¬
nungen des eigenen Gewissens anflehten, ihnen die Rückkehr zur lutherischen
Kirche zu gestatten. Thatsächlich gehörten diese Unglücklichen gar keiner kirchli¬
chen Gemeinschaft mehr an: aus der griechischen Kirche waren sie ausgetreten,
zum Theil als Strafe für ihre Renitenz ausgeschlossen, vor der lutherischen
Kirchenthür aber stand das Ungeheuer eines drohenden, unerbittlichen Straf¬
gesetzes.

Am schwersten lastete dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf der
lutherischen Geistlichkeit Livlands; namentlich das Verlangen der Convertiten
nach dem lutherischen Abendmahl wurde immer dringender und zahlreiche
Pastoren erklärten, da man Gott mehr gehorchen müsse, als den Menschen, auch
die Landesprivilegien nicht förmlich aufgehoben seien und Glaubensfreiheit zu¬
sicherten, sie selbst endlich nicht Lust hätten, bei ihren Gemeinden als Feiglinge
verachtet zu werden, würden sie ihre amtlichen Stellungen aufs Spiel setzen
und die armen kirchenlosen Letten und Ehlen zur Beichte und zum Abend¬
mahl zulassen; war es doch schon geschehen, daß dieselben sich heimlich an
die Altäre geschlichen und unter der Menge der Communicanten versteckt,
das Abendmahl (wie man es technisch nannte) "arripirt" hatten! Nur die
Hoffnung auf eine längst erwartete Concession der Regierung und ihres
humanen Oberhaupts hielt von diesem äußersten Schritt zurück.

Ganz unbegründet waren diese Hoffnungen nicht. Schon daß die liv-
ländischen Oberbehörden keinerlei höhere Instruction zu directem Vorgehen
gegen die rennenden Glieder der griechisch-orthodoxen Kirche erhalten hatten,
und daß die dem Generalgouvernement unterbreiteten Gesuche um Erlaubniß
zum Rücktritt in die lutherische Kirche ohne alle Beahndung geblieben waren,
ließ darauf schließen, daß man in Petersburg nicht geneigt sei, den Wider¬
stand des Volks durch terroristische Maßregeln zu brechen. Ueberdies boten
die humanen Anschauungen, die der Kaiser schon als Thronfolger bethätigt
hatte, eine Garantie dafür, daß die gesammte Angelegenheit an der ma߬
gebenden Stelle die gehörige Würdigung finden werde; auch der mit der
Oberleitung der kirchlichen Angelegenheiten betraute Minister des Innern,
damals Geheimrath Walujew, hatte für die Schwierigkeiten der kirchlichen
Lage in Livland Verständniß, da erlangein diesem Lande gelebt. Sogeschah
es. daß ein allgemein geachteter, durch seine Humanität und Unparteilichkeit
bekannter Ehrenmann, der oben erwähnte Graf Bobrinsky, beauftragt wurde,
sich an Ort und Stelle von dem Stande der Dinge zu überzeugen und
Sr. Majestät direct darüber zu berichten. Der Eindruck, den die Rundreise
des Grafen bei dem Landvolk machte, war ein ungeheurer und steigerte die


Grenzboten II. 18K9, 2

allen Theilen über den Kopf. Nicht nur die Prediger, alle Behörden, stän¬
dische und staatliche Autoritäten Livlands wurden von Bittstellern be¬
lagert, welche sie unter heißen Thränen und unter Berufung auf die Mah¬
nungen des eigenen Gewissens anflehten, ihnen die Rückkehr zur lutherischen
Kirche zu gestatten. Thatsächlich gehörten diese Unglücklichen gar keiner kirchli¬
chen Gemeinschaft mehr an: aus der griechischen Kirche waren sie ausgetreten,
zum Theil als Strafe für ihre Renitenz ausgeschlossen, vor der lutherischen
Kirchenthür aber stand das Ungeheuer eines drohenden, unerbittlichen Straf¬
gesetzes.

Am schwersten lastete dieser entsetzliche Zustand der Dinge auf der
lutherischen Geistlichkeit Livlands; namentlich das Verlangen der Convertiten
nach dem lutherischen Abendmahl wurde immer dringender und zahlreiche
Pastoren erklärten, da man Gott mehr gehorchen müsse, als den Menschen, auch
die Landesprivilegien nicht förmlich aufgehoben seien und Glaubensfreiheit zu¬
sicherten, sie selbst endlich nicht Lust hätten, bei ihren Gemeinden als Feiglinge
verachtet zu werden, würden sie ihre amtlichen Stellungen aufs Spiel setzen
und die armen kirchenlosen Letten und Ehlen zur Beichte und zum Abend¬
mahl zulassen; war es doch schon geschehen, daß dieselben sich heimlich an
die Altäre geschlichen und unter der Menge der Communicanten versteckt,
das Abendmahl (wie man es technisch nannte) „arripirt" hatten! Nur die
Hoffnung auf eine längst erwartete Concession der Regierung und ihres
humanen Oberhaupts hielt von diesem äußersten Schritt zurück.

Ganz unbegründet waren diese Hoffnungen nicht. Schon daß die liv-
ländischen Oberbehörden keinerlei höhere Instruction zu directem Vorgehen
gegen die rennenden Glieder der griechisch-orthodoxen Kirche erhalten hatten,
und daß die dem Generalgouvernement unterbreiteten Gesuche um Erlaubniß
zum Rücktritt in die lutherische Kirche ohne alle Beahndung geblieben waren,
ließ darauf schließen, daß man in Petersburg nicht geneigt sei, den Wider¬
stand des Volks durch terroristische Maßregeln zu brechen. Ueberdies boten
die humanen Anschauungen, die der Kaiser schon als Thronfolger bethätigt
hatte, eine Garantie dafür, daß die gesammte Angelegenheit an der ma߬
gebenden Stelle die gehörige Würdigung finden werde; auch der mit der
Oberleitung der kirchlichen Angelegenheiten betraute Minister des Innern,
damals Geheimrath Walujew, hatte für die Schwierigkeiten der kirchlichen
Lage in Livland Verständniß, da erlangein diesem Lande gelebt. Sogeschah
es. daß ein allgemein geachteter, durch seine Humanität und Unparteilichkeit
bekannter Ehrenmann, der oben erwähnte Graf Bobrinsky, beauftragt wurde,
sich an Ort und Stelle von dem Stande der Dinge zu überzeugen und
Sr. Majestät direct darüber zu berichten. Der Eindruck, den die Rundreise
des Grafen bei dem Landvolk machte, war ein ungeheurer und steigerte die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/17>, abgerufen am 24.07.2024.