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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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einen sittlichen Nothstand zur Sprache zu bringen, der als solcher Abhilfe
verlangt. Mag über das Herrenrecht des deutschen Elements an der Ostsee
noch so verschieden gedacht und geurtheilt werden, darüber müssen alle Ge¬
bildeten, mögen sie Deutsche oder Russen heißen, einig sein, daß Beeinträch¬
tigung der Glaubensfreiheit unter allen Umständen zu verdammen ist, daß es
kein politisches oder nationales Princip giebt, aus welchem ein auf die Ge¬
wissen geübter Druck gerechtfertigt oder auch nur entschuldigt werden kann.

Die vorliegende Schrift enthält eine ausführliche, getreue und durch eine
lange Reihe officieller Actenstücke beglaubigte Darstellung der Geschichte kirch¬
licher Intoleranz in Livland. Nach einem Eingang, der die baltischen Ver¬
hältnisse im Umriß schildert, geht der Verfasser zu jener Propaganda der
griechischen Geistlichkeit über, welche vor fünfundzwanzig Jahren Tausende
bethörter chemischer und keltischer Protestanten zum Abfall von der Religion
ihrer Väter und zum Uebertritt in die griechisch-orthodoxe Kirche bewegte.
Auf eine Kritik der zu diesem Behuf angewandten Mittel gehen wir ebenso'
wenig ein, wie auf den Nachweis, daß die Beeinträchtigung der lutherischen
Kirche Livlands und der Glaubensfreiheit ihrer Glieder eine directe Ver¬
letzung der zu Recht bestehenden Privilegien und Ordnungen dieses Landes ist.
Jene Conversionen sind eine Thatsache, auf welche auch die gebildeten Glie¬
der der griechischen Kirche und russischen Nation, wenn sie ehrlich sind, mit
Erröthen zurückblicken und die ein kaiserlicher Vertrauensmann, der Graf
Bobrinsky, in seinem an den Kaiser gerichteten Bericht vor wenigen Jahren
einen "officiellen Betrug" genannt hat. Ueber jene Conversionen ist jede
Diskussion ausgeschlossen -- orientiren wir uns über die von ihnen herbei¬
geführten Zustände und die bisher zur Besserung derselben angewandten Mittel.

Ohne Rücksicht auf die entgegenstehenden Bestimmungen der 1710
mit Peter dem Großen vereinbarten livländischen Accordpunkte und des Ny-
städter Friedensvertrags vom Jahre 1721 gelten die für das russische Reich
erlassenen Bestimmungen über die griechisch-orthodoxe Kirche auch für die
lettischen und chemischen Konvertiten Livlands. Diese Verordnungen lassen
sich in folgende Punkte zusammenfassen: 1) Kein Glied der griechischen Kirche
darf aus derselben austreten, alle, auch die in gemischter Ehe erzeugten Kin¬
der, deren Väter oder Mütter griechische Christen sind, verfallen dieser Kirche.
2) Jede Verführung zum Abfall von dieser Kirche wird criminaliter und be¬
ziehungsweise mit Verbannung nach Sibirien bestraft, ebenso jede Ver¬
hinderung des Uebertritts zur griechischen Kirche. 3) Jeder pro¬
testantische Geistliche, der griechisch-russische Christen zu seiner Confession
aufnimmt, wird mit Amtsentsetzung gestraft, jede Zulassung zu lutherischen
Sacramenten oder zu Trauungen nach lutherischem Ritus mit Amtssuspension.
4) Nur die griechisch-orthodoxe Geistlichkeit hat das Recht, innerhalb der


einen sittlichen Nothstand zur Sprache zu bringen, der als solcher Abhilfe
verlangt. Mag über das Herrenrecht des deutschen Elements an der Ostsee
noch so verschieden gedacht und geurtheilt werden, darüber müssen alle Ge¬
bildeten, mögen sie Deutsche oder Russen heißen, einig sein, daß Beeinträch¬
tigung der Glaubensfreiheit unter allen Umständen zu verdammen ist, daß es
kein politisches oder nationales Princip giebt, aus welchem ein auf die Ge¬
wissen geübter Druck gerechtfertigt oder auch nur entschuldigt werden kann.

Die vorliegende Schrift enthält eine ausführliche, getreue und durch eine
lange Reihe officieller Actenstücke beglaubigte Darstellung der Geschichte kirch¬
licher Intoleranz in Livland. Nach einem Eingang, der die baltischen Ver¬
hältnisse im Umriß schildert, geht der Verfasser zu jener Propaganda der
griechischen Geistlichkeit über, welche vor fünfundzwanzig Jahren Tausende
bethörter chemischer und keltischer Protestanten zum Abfall von der Religion
ihrer Väter und zum Uebertritt in die griechisch-orthodoxe Kirche bewegte.
Auf eine Kritik der zu diesem Behuf angewandten Mittel gehen wir ebenso'
wenig ein, wie auf den Nachweis, daß die Beeinträchtigung der lutherischen
Kirche Livlands und der Glaubensfreiheit ihrer Glieder eine directe Ver¬
letzung der zu Recht bestehenden Privilegien und Ordnungen dieses Landes ist.
Jene Conversionen sind eine Thatsache, auf welche auch die gebildeten Glie¬
der der griechischen Kirche und russischen Nation, wenn sie ehrlich sind, mit
Erröthen zurückblicken und die ein kaiserlicher Vertrauensmann, der Graf
Bobrinsky, in seinem an den Kaiser gerichteten Bericht vor wenigen Jahren
einen „officiellen Betrug" genannt hat. Ueber jene Conversionen ist jede
Diskussion ausgeschlossen — orientiren wir uns über die von ihnen herbei¬
geführten Zustände und die bisher zur Besserung derselben angewandten Mittel.

Ohne Rücksicht auf die entgegenstehenden Bestimmungen der 1710
mit Peter dem Großen vereinbarten livländischen Accordpunkte und des Ny-
städter Friedensvertrags vom Jahre 1721 gelten die für das russische Reich
erlassenen Bestimmungen über die griechisch-orthodoxe Kirche auch für die
lettischen und chemischen Konvertiten Livlands. Diese Verordnungen lassen
sich in folgende Punkte zusammenfassen: 1) Kein Glied der griechischen Kirche
darf aus derselben austreten, alle, auch die in gemischter Ehe erzeugten Kin¬
der, deren Väter oder Mütter griechische Christen sind, verfallen dieser Kirche.
2) Jede Verführung zum Abfall von dieser Kirche wird criminaliter und be¬
ziehungsweise mit Verbannung nach Sibirien bestraft, ebenso jede Ver¬
hinderung des Uebertritts zur griechischen Kirche. 3) Jeder pro¬
testantische Geistliche, der griechisch-russische Christen zu seiner Confession
aufnimmt, wird mit Amtsentsetzung gestraft, jede Zulassung zu lutherischen
Sacramenten oder zu Trauungen nach lutherischem Ritus mit Amtssuspension.
4) Nur die griechisch-orthodoxe Geistlichkeit hat das Recht, innerhalb der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/14>, abgerufen am 24.07.2024.