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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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dung ist im Ganzen ein fest gegebenes, wenn es auch im Einzelnen nach Zeit
und Art allen möglichen Schwankungen unterliegen mag. Gleichviel wie
hoch, oder wie niedrig gegriffen, es stimmt keineswegs mit dem Maß. wel¬
ches die Wissenschaft aus sich heraus festsetzt. So z. B. besitzt ein juristischer
Candidat unserer Tage, der -- man nehme den unerhörten, aber doch mög¬
lichen Fall einmal als wirklich an -- thatsächlich das Alles aus den Vor¬
trägen der Professoren in sich aufgenommen hat, was der Staat als Vor¬
bedingung oder, einfacher gesagt, als erforderlich zum Staatseramen verlangt,
noch keineswegs in den Augen der Wissenschaft die Totalität der Geistes¬
bildung, die sie unabhängig von allen äußeren Rücksichten als ihr Minimal¬
maß festzusetzen befugt ist. Eigentlich müßte dieser Unterschied in den Er¬
gebnissen des Staats- und des Doctorexamens zur Erscheinung kommen, wenn
das eine der Praxis, das andere der Wissenschaft als solcher gehört, und in
der That ergeben sich auch oft bei einem und demselben Candidaten die
klciffendsten Widersprüche. In den meisten Fällen wird aber nach dem be¬
liebten Vertuschungs- und Vermittlungssystem nach der einen und nach der
anderen Seite hin der Gegensatz abgeschwächt, so daß wenigstens alle nicht
eingeweihten Augen nichts daran zu bemerken vermögen.

Begreiflich ist es serner. daß die Ueberlieferung des wissenschaftlichen
Materials, je nachdem es um seiner selbst willen und zu den höchsten Zielen
der Wissenschaft, oder zu einer Propädeutik für die Praxis verwandt werden
soll, eine ganz verschiedene Haltung annehmen muß. Es werden nicht blos
ganz andere Gegenstände, sondern diese selbst auch ganz anders vorgetragen
werden. Bleiben wir bei dem juristischen Fach stehen. Die wissenschaftliche
Jurisprudenz gestaltet sich von Tage zu Tage mehr zur Rechtsgeschichte im
weitesten und tiefsten Sinne, also zu einem Theile der allgemeinen oder
speciell nationalen Culturgeschichte, und läßt sich schon jetzt nicht mehr ohne
ausgebreitete philologische oder historische Studien denken. Die juristische
Praxis des Staates emancipirt sich umgekehrt immer mehr von den Tradi¬
tionen des geschichtlichen Herkommens und den altherübergekommenen Instituten.
Sie versucht in der unmittelbarsten Gegenwart, und nur in dieser, zu stehen.
Der Staat hat also für sich selbst nicht nur kein Interesse, seine künstigen Werk¬
zeuge mit Kenntnissen genährt zu sehen, die sie absolut nicht brauchen, sondern
wenn er seine eigenen Bedürfnisse scharf und vorurtheilsfrei beurtheilt, eher das
entgegengesetzte, sie so fern als möglich von diesem überflüssigen und ihre
Brauchbarkeit in jeder Art hemmenden Ballast zu halten. Faktisch gestaltet sich
der akademische Unterricht nun so, daß er es beiden Creditoren dem Staate
und der Wissenschaft recht zu machen sucht, und es natürlich Keinem recht macht.

Die doctrinaire Lösung dieses Dilemma's findet sich, wie gewöhnlich,
sehr leicht. Man zerlege die jetzigen Universitäten nach den beiden Momen-


dung ist im Ganzen ein fest gegebenes, wenn es auch im Einzelnen nach Zeit
und Art allen möglichen Schwankungen unterliegen mag. Gleichviel wie
hoch, oder wie niedrig gegriffen, es stimmt keineswegs mit dem Maß. wel¬
ches die Wissenschaft aus sich heraus festsetzt. So z. B. besitzt ein juristischer
Candidat unserer Tage, der — man nehme den unerhörten, aber doch mög¬
lichen Fall einmal als wirklich an — thatsächlich das Alles aus den Vor¬
trägen der Professoren in sich aufgenommen hat, was der Staat als Vor¬
bedingung oder, einfacher gesagt, als erforderlich zum Staatseramen verlangt,
noch keineswegs in den Augen der Wissenschaft die Totalität der Geistes¬
bildung, die sie unabhängig von allen äußeren Rücksichten als ihr Minimal¬
maß festzusetzen befugt ist. Eigentlich müßte dieser Unterschied in den Er¬
gebnissen des Staats- und des Doctorexamens zur Erscheinung kommen, wenn
das eine der Praxis, das andere der Wissenschaft als solcher gehört, und in
der That ergeben sich auch oft bei einem und demselben Candidaten die
klciffendsten Widersprüche. In den meisten Fällen wird aber nach dem be¬
liebten Vertuschungs- und Vermittlungssystem nach der einen und nach der
anderen Seite hin der Gegensatz abgeschwächt, so daß wenigstens alle nicht
eingeweihten Augen nichts daran zu bemerken vermögen.

Begreiflich ist es serner. daß die Ueberlieferung des wissenschaftlichen
Materials, je nachdem es um seiner selbst willen und zu den höchsten Zielen
der Wissenschaft, oder zu einer Propädeutik für die Praxis verwandt werden
soll, eine ganz verschiedene Haltung annehmen muß. Es werden nicht blos
ganz andere Gegenstände, sondern diese selbst auch ganz anders vorgetragen
werden. Bleiben wir bei dem juristischen Fach stehen. Die wissenschaftliche
Jurisprudenz gestaltet sich von Tage zu Tage mehr zur Rechtsgeschichte im
weitesten und tiefsten Sinne, also zu einem Theile der allgemeinen oder
speciell nationalen Culturgeschichte, und läßt sich schon jetzt nicht mehr ohne
ausgebreitete philologische oder historische Studien denken. Die juristische
Praxis des Staates emancipirt sich umgekehrt immer mehr von den Tradi¬
tionen des geschichtlichen Herkommens und den altherübergekommenen Instituten.
Sie versucht in der unmittelbarsten Gegenwart, und nur in dieser, zu stehen.
Der Staat hat also für sich selbst nicht nur kein Interesse, seine künstigen Werk¬
zeuge mit Kenntnissen genährt zu sehen, die sie absolut nicht brauchen, sondern
wenn er seine eigenen Bedürfnisse scharf und vorurtheilsfrei beurtheilt, eher das
entgegengesetzte, sie so fern als möglich von diesem überflüssigen und ihre
Brauchbarkeit in jeder Art hemmenden Ballast zu halten. Faktisch gestaltet sich
der akademische Unterricht nun so, daß er es beiden Creditoren dem Staate
und der Wissenschaft recht zu machen sucht, und es natürlich Keinem recht macht.

Die doctrinaire Lösung dieses Dilemma's findet sich, wie gewöhnlich,
sehr leicht. Man zerlege die jetzigen Universitäten nach den beiden Momen-


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[0422] dung ist im Ganzen ein fest gegebenes, wenn es auch im Einzelnen nach Zeit und Art allen möglichen Schwankungen unterliegen mag. Gleichviel wie hoch, oder wie niedrig gegriffen, es stimmt keineswegs mit dem Maß. wel¬ ches die Wissenschaft aus sich heraus festsetzt. So z. B. besitzt ein juristischer Candidat unserer Tage, der — man nehme den unerhörten, aber doch mög¬ lichen Fall einmal als wirklich an — thatsächlich das Alles aus den Vor¬ trägen der Professoren in sich aufgenommen hat, was der Staat als Vor¬ bedingung oder, einfacher gesagt, als erforderlich zum Staatseramen verlangt, noch keineswegs in den Augen der Wissenschaft die Totalität der Geistes¬ bildung, die sie unabhängig von allen äußeren Rücksichten als ihr Minimal¬ maß festzusetzen befugt ist. Eigentlich müßte dieser Unterschied in den Er¬ gebnissen des Staats- und des Doctorexamens zur Erscheinung kommen, wenn das eine der Praxis, das andere der Wissenschaft als solcher gehört, und in der That ergeben sich auch oft bei einem und demselben Candidaten die klciffendsten Widersprüche. In den meisten Fällen wird aber nach dem be¬ liebten Vertuschungs- und Vermittlungssystem nach der einen und nach der anderen Seite hin der Gegensatz abgeschwächt, so daß wenigstens alle nicht eingeweihten Augen nichts daran zu bemerken vermögen. Begreiflich ist es serner. daß die Ueberlieferung des wissenschaftlichen Materials, je nachdem es um seiner selbst willen und zu den höchsten Zielen der Wissenschaft, oder zu einer Propädeutik für die Praxis verwandt werden soll, eine ganz verschiedene Haltung annehmen muß. Es werden nicht blos ganz andere Gegenstände, sondern diese selbst auch ganz anders vorgetragen werden. Bleiben wir bei dem juristischen Fach stehen. Die wissenschaftliche Jurisprudenz gestaltet sich von Tage zu Tage mehr zur Rechtsgeschichte im weitesten und tiefsten Sinne, also zu einem Theile der allgemeinen oder speciell nationalen Culturgeschichte, und läßt sich schon jetzt nicht mehr ohne ausgebreitete philologische oder historische Studien denken. Die juristische Praxis des Staates emancipirt sich umgekehrt immer mehr von den Tradi¬ tionen des geschichtlichen Herkommens und den altherübergekommenen Instituten. Sie versucht in der unmittelbarsten Gegenwart, und nur in dieser, zu stehen. Der Staat hat also für sich selbst nicht nur kein Interesse, seine künstigen Werk¬ zeuge mit Kenntnissen genährt zu sehen, die sie absolut nicht brauchen, sondern wenn er seine eigenen Bedürfnisse scharf und vorurtheilsfrei beurtheilt, eher das entgegengesetzte, sie so fern als möglich von diesem überflüssigen und ihre Brauchbarkeit in jeder Art hemmenden Ballast zu halten. Faktisch gestaltet sich der akademische Unterricht nun so, daß er es beiden Creditoren dem Staate und der Wissenschaft recht zu machen sucht, und es natürlich Keinem recht macht. Die doctrinaire Lösung dieses Dilemma's findet sich, wie gewöhnlich, sehr leicht. Man zerlege die jetzigen Universitäten nach den beiden Momen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/422>, abgerufen am 20.10.2024.