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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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war es ein verhältnißmäßig kleiner Theil der unabhängigen Presse, welcher
mitmachte; unter diesem zählte dieses Mal freilich ein Journal, das sonst
für einen Vertreter der besseren französischen Traditionen gilt, die Ksvus ach
äeux nwnäös (Vgl. ILsvuö as la yuinWMö vom 15. Febr.), das Organ
des besten und verständigsten Theils der liberalen Bourgeoisie, aber gerade
darum in Thier'schen Anschauungen über den Werth der deutschen und euro¬
päischen Mittelstaaten befangen. Mit voller Energie trat die liberale Presse
aber erst unter die Waffen, als die journalistischen Gevattern der Rouher
und Lavalette an der belgischen Eisenbahnangelegenheit zu einem Wuthschrei
gegen das kleine Königthum Veranlassung nahmen, dessen konstitutionelle
Integrität dem zweiten Kaiserthum von je ein Greuel gewesen ist, und das
nach dem neuerdings erfolgten Tode des legitimen Thronerben, Herzogs von
Brabant die ministeriellen und chrouvinistischen Compensationsgelüste beson¬
ders gereizt haben mag. Die officiöse Journalistik (Herrn v. Girardin natür¬
lich mit einbegriffen) hat bei dieser Gelegenheit ein Fiasco von unbezahl¬
barem Werth für die unabhängigen Blätter gemacht, und für längere Zeit
jener Fiction auf den Mund geschlagen, welche die Welt glauben will, die
Kriegslust der Nation werde durch die ministerielle Zeitungsschreiberei in
Schranken gehalten. Handelte es sich nicht um eine Nation, in der die Stim-
mungen so wechselnd find, wie die Moden, so ließe sich von dem jämmer¬
lichen Ausgang der gegen Belgien gerichteten Campagne für die Sache der
Regierung nicht eben günstiger Einfluß auf die nächsten Wahlen erwarten.

Neben dem Lärm über die journalistischen Streifzüge nach Deutschland
und Belgien und den Sensationsnachrichten, welche während einiger Tage
der ersten Februarwoche über den schnell gebändigten algirischen Aufstand
einliefen, ist der charakteristischste Vorgang aus der .neueren Geschichte des
kaiserlich französischen Parlamentarismus, die Jnterpellation, welche der Baron
Berolft über den Mißbrauch des Versammlungsrechts einbrachte, ziemlich
rasch vergessen worden. Nur der Minister Forcade de la Rooquette hat
für diese Denunciatian gegen ein Volksrecht, das Frankreich früher be¬
sessen als irgend ein anderer continentaler Staat, Gedächtniß bewiesen.
Nachdem diese Versammlungen durch einzelne socialistische Spektakelmacher
compromittirt worden, und Herr v. Berolft daran zu der Klage über unver¬
antwortliche Liberalität der Regierung Veranlassung genommen, hat der Mi¬
nister des Inneren seinen Präfecten und Sousprcifecten so gemessene Vorschrif¬
ten wegen Überwachung aller öffentlichen Versammlungen ertheilt, daß man
glauben sollte, Frankreich, und namentlich das Frankreich der Departements,
sei der Heerd von Verschwörungen gegen die bestehende Ordnung in ganz
Europa, nicht das Land, in welchem die Arkadier zu Volksvertretern gewählt
worden. Dieser Appell an die Furcht der besitzenden Klassen vor dem rothen


war es ein verhältnißmäßig kleiner Theil der unabhängigen Presse, welcher
mitmachte; unter diesem zählte dieses Mal freilich ein Journal, das sonst
für einen Vertreter der besseren französischen Traditionen gilt, die Ksvus ach
äeux nwnäös (Vgl. ILsvuö as la yuinWMö vom 15. Febr.), das Organ
des besten und verständigsten Theils der liberalen Bourgeoisie, aber gerade
darum in Thier'schen Anschauungen über den Werth der deutschen und euro¬
päischen Mittelstaaten befangen. Mit voller Energie trat die liberale Presse
aber erst unter die Waffen, als die journalistischen Gevattern der Rouher
und Lavalette an der belgischen Eisenbahnangelegenheit zu einem Wuthschrei
gegen das kleine Königthum Veranlassung nahmen, dessen konstitutionelle
Integrität dem zweiten Kaiserthum von je ein Greuel gewesen ist, und das
nach dem neuerdings erfolgten Tode des legitimen Thronerben, Herzogs von
Brabant die ministeriellen und chrouvinistischen Compensationsgelüste beson¬
ders gereizt haben mag. Die officiöse Journalistik (Herrn v. Girardin natür¬
lich mit einbegriffen) hat bei dieser Gelegenheit ein Fiasco von unbezahl¬
barem Werth für die unabhängigen Blätter gemacht, und für längere Zeit
jener Fiction auf den Mund geschlagen, welche die Welt glauben will, die
Kriegslust der Nation werde durch die ministerielle Zeitungsschreiberei in
Schranken gehalten. Handelte es sich nicht um eine Nation, in der die Stim-
mungen so wechselnd find, wie die Moden, so ließe sich von dem jämmer¬
lichen Ausgang der gegen Belgien gerichteten Campagne für die Sache der
Regierung nicht eben günstiger Einfluß auf die nächsten Wahlen erwarten.

Neben dem Lärm über die journalistischen Streifzüge nach Deutschland
und Belgien und den Sensationsnachrichten, welche während einiger Tage
der ersten Februarwoche über den schnell gebändigten algirischen Aufstand
einliefen, ist der charakteristischste Vorgang aus der .neueren Geschichte des
kaiserlich französischen Parlamentarismus, die Jnterpellation, welche der Baron
Berolft über den Mißbrauch des Versammlungsrechts einbrachte, ziemlich
rasch vergessen worden. Nur der Minister Forcade de la Rooquette hat
für diese Denunciatian gegen ein Volksrecht, das Frankreich früher be¬
sessen als irgend ein anderer continentaler Staat, Gedächtniß bewiesen.
Nachdem diese Versammlungen durch einzelne socialistische Spektakelmacher
compromittirt worden, und Herr v. Berolft daran zu der Klage über unver¬
antwortliche Liberalität der Regierung Veranlassung genommen, hat der Mi¬
nister des Inneren seinen Präfecten und Sousprcifecten so gemessene Vorschrif¬
ten wegen Überwachung aller öffentlichen Versammlungen ertheilt, daß man
glauben sollte, Frankreich, und namentlich das Frankreich der Departements,
sei der Heerd von Verschwörungen gegen die bestehende Ordnung in ganz
Europa, nicht das Land, in welchem die Arkadier zu Volksvertretern gewählt
worden. Dieser Appell an die Furcht der besitzenden Klassen vor dem rothen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/342>, abgerufen am 28.09.2024.