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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Jahren nicht viel Neues hinzugethan werden kann; erst das Jahr 1830
rüttelte den Welttheil aus der Ermattung auf. in welche er nach den furcht¬
baren Anstrengungen der Franzosenzeit gerathen war Nichtsdestoweniger
steht der vorliegende Band noch beträchtlich hinter den bescheidenen Anforde¬
rungen zurück, mit denen die Mehrzahl der erfahreneren Leser nach Bekannt¬
schaft mit den ersten beiden Bänden an ihn gegangen sein wird. Der Varn-
hagen von 1819 kehrte von längerem Aufenthalt in Süddeutschland nach
Berlin zurück, er hatte für die Menschen und Verhältnisse, mit denen wieder
er in Beziehung trat, einen relativ frischen Blick, er wußte die Wand¬
lungen, welche sich in ihnen vollzogen, nach ihren charakteristischen Merkmalen
aufzufassen und hatte die Hoffnung und den Wunsch mit ihnen zu leben und
zu wirken. Die Jahre zwischen 1819 und 1824 haben ihn verändert und
zwar nicht zum Vortheil verändert. Die Welt, in der er lebt, ist ihm ge¬
wohnt geworden, er sieht sie mit müden und gelangweilten Augen an; der
jahrelange Müßiggang, zu dem er verurtheilt ist, hat ihn verdrossen, mi߬
günstig und kleinlich gemacht, die getäuschte Hoffnung auf Wiederverwendung
im Staarsdienst trägt das ihre dazu bei, die Laune des ehrgeizigen Mannes
zu verderben. Varnhagen wird mit jeden neuem Jahr, das er in der preußischen
Hauptstadt zubringt, mehr und mehr zum richtigen Berliner, der über Alles von
einem "höheren Standpunkt" zu raisonniren weiß, bis er schließlich dennoch
in der Theilnahme für kleine Tagesneuigkeiten, städtische und höfische Scandal-
geschichten ganz aufgeht. Zwar verleugnet sich der hochgebildete, mit einem
richtigen Verständniß für die Bedürfnisse seiner Zeit und seines Staats be¬
gabte Mann nirgend ganz, aber er wird ausgehungert und auf die knappe
Kost eines beobachtenden und raisonnirendcn Flaneurs in den vornehmen und
gelehrten Salons gesetzt. Der preußische Staat von 1824 und 1825 hat keine
großen Interessen und Ziele, er treibt eine kleinliche, unsichere, unselbständige
Politik, welche sich wesentlich um Personenfragen und Hofintriguen dreht
und durch Zufälle bedingt wird, die mit den wahren Bedürfnissen des Volks
ebenso wenig zu thun haben, wie mit der natürlichen Aufgabe der Monarchie
Friedrichs des Großen. Während sich in den mittleren Schichten der Gesell¬
schaft und der Bureaukratie häufig noch Tüchtigkeit und Strebsamkeit er¬
halten haben, denen es nur an dem gehörigen Spielraum zur Entfaltung
fehlt, bieten die höheren Regionen das Bild trostloser Oede und Gedanken¬
losigkeit.

Gerade diese Regionen sind es aber, in denen Varnhagen sich mit Vor¬
liebe bewegt, aus denen er seine Beobachtungen schöpft, seine Neuigkeiten
und Urtheile holt. So bitter und souverain er über dieselben auch urtheilt,
die Einflüsse welche sie auf ihn üben werden stärker, je länger er ihnen aus¬
gesetzt ist. Drei Viertheile der Notizen, welche er in dem vorliegenden Bande


Jahren nicht viel Neues hinzugethan werden kann; erst das Jahr 1830
rüttelte den Welttheil aus der Ermattung auf. in welche er nach den furcht¬
baren Anstrengungen der Franzosenzeit gerathen war Nichtsdestoweniger
steht der vorliegende Band noch beträchtlich hinter den bescheidenen Anforde¬
rungen zurück, mit denen die Mehrzahl der erfahreneren Leser nach Bekannt¬
schaft mit den ersten beiden Bänden an ihn gegangen sein wird. Der Varn-
hagen von 1819 kehrte von längerem Aufenthalt in Süddeutschland nach
Berlin zurück, er hatte für die Menschen und Verhältnisse, mit denen wieder
er in Beziehung trat, einen relativ frischen Blick, er wußte die Wand¬
lungen, welche sich in ihnen vollzogen, nach ihren charakteristischen Merkmalen
aufzufassen und hatte die Hoffnung und den Wunsch mit ihnen zu leben und
zu wirken. Die Jahre zwischen 1819 und 1824 haben ihn verändert und
zwar nicht zum Vortheil verändert. Die Welt, in der er lebt, ist ihm ge¬
wohnt geworden, er sieht sie mit müden und gelangweilten Augen an; der
jahrelange Müßiggang, zu dem er verurtheilt ist, hat ihn verdrossen, mi߬
günstig und kleinlich gemacht, die getäuschte Hoffnung auf Wiederverwendung
im Staarsdienst trägt das ihre dazu bei, die Laune des ehrgeizigen Mannes
zu verderben. Varnhagen wird mit jeden neuem Jahr, das er in der preußischen
Hauptstadt zubringt, mehr und mehr zum richtigen Berliner, der über Alles von
einem „höheren Standpunkt" zu raisonniren weiß, bis er schließlich dennoch
in der Theilnahme für kleine Tagesneuigkeiten, städtische und höfische Scandal-
geschichten ganz aufgeht. Zwar verleugnet sich der hochgebildete, mit einem
richtigen Verständniß für die Bedürfnisse seiner Zeit und seines Staats be¬
gabte Mann nirgend ganz, aber er wird ausgehungert und auf die knappe
Kost eines beobachtenden und raisonnirendcn Flaneurs in den vornehmen und
gelehrten Salons gesetzt. Der preußische Staat von 1824 und 1825 hat keine
großen Interessen und Ziele, er treibt eine kleinliche, unsichere, unselbständige
Politik, welche sich wesentlich um Personenfragen und Hofintriguen dreht
und durch Zufälle bedingt wird, die mit den wahren Bedürfnissen des Volks
ebenso wenig zu thun haben, wie mit der natürlichen Aufgabe der Monarchie
Friedrichs des Großen. Während sich in den mittleren Schichten der Gesell¬
schaft und der Bureaukratie häufig noch Tüchtigkeit und Strebsamkeit er¬
halten haben, denen es nur an dem gehörigen Spielraum zur Entfaltung
fehlt, bieten die höheren Regionen das Bild trostloser Oede und Gedanken¬
losigkeit.

Gerade diese Regionen sind es aber, in denen Varnhagen sich mit Vor¬
liebe bewegt, aus denen er seine Beobachtungen schöpft, seine Neuigkeiten
und Urtheile holt. So bitter und souverain er über dieselben auch urtheilt,
die Einflüsse welche sie auf ihn üben werden stärker, je länger er ihnen aus¬
gesetzt ist. Drei Viertheile der Notizen, welche er in dem vorliegenden Bande


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[0283] Jahren nicht viel Neues hinzugethan werden kann; erst das Jahr 1830 rüttelte den Welttheil aus der Ermattung auf. in welche er nach den furcht¬ baren Anstrengungen der Franzosenzeit gerathen war Nichtsdestoweniger steht der vorliegende Band noch beträchtlich hinter den bescheidenen Anforde¬ rungen zurück, mit denen die Mehrzahl der erfahreneren Leser nach Bekannt¬ schaft mit den ersten beiden Bänden an ihn gegangen sein wird. Der Varn- hagen von 1819 kehrte von längerem Aufenthalt in Süddeutschland nach Berlin zurück, er hatte für die Menschen und Verhältnisse, mit denen wieder er in Beziehung trat, einen relativ frischen Blick, er wußte die Wand¬ lungen, welche sich in ihnen vollzogen, nach ihren charakteristischen Merkmalen aufzufassen und hatte die Hoffnung und den Wunsch mit ihnen zu leben und zu wirken. Die Jahre zwischen 1819 und 1824 haben ihn verändert und zwar nicht zum Vortheil verändert. Die Welt, in der er lebt, ist ihm ge¬ wohnt geworden, er sieht sie mit müden und gelangweilten Augen an; der jahrelange Müßiggang, zu dem er verurtheilt ist, hat ihn verdrossen, mi߬ günstig und kleinlich gemacht, die getäuschte Hoffnung auf Wiederverwendung im Staarsdienst trägt das ihre dazu bei, die Laune des ehrgeizigen Mannes zu verderben. Varnhagen wird mit jeden neuem Jahr, das er in der preußischen Hauptstadt zubringt, mehr und mehr zum richtigen Berliner, der über Alles von einem „höheren Standpunkt" zu raisonniren weiß, bis er schließlich dennoch in der Theilnahme für kleine Tagesneuigkeiten, städtische und höfische Scandal- geschichten ganz aufgeht. Zwar verleugnet sich der hochgebildete, mit einem richtigen Verständniß für die Bedürfnisse seiner Zeit und seines Staats be¬ gabte Mann nirgend ganz, aber er wird ausgehungert und auf die knappe Kost eines beobachtenden und raisonnirendcn Flaneurs in den vornehmen und gelehrten Salons gesetzt. Der preußische Staat von 1824 und 1825 hat keine großen Interessen und Ziele, er treibt eine kleinliche, unsichere, unselbständige Politik, welche sich wesentlich um Personenfragen und Hofintriguen dreht und durch Zufälle bedingt wird, die mit den wahren Bedürfnissen des Volks ebenso wenig zu thun haben, wie mit der natürlichen Aufgabe der Monarchie Friedrichs des Großen. Während sich in den mittleren Schichten der Gesell¬ schaft und der Bureaukratie häufig noch Tüchtigkeit und Strebsamkeit er¬ halten haben, denen es nur an dem gehörigen Spielraum zur Entfaltung fehlt, bieten die höheren Regionen das Bild trostloser Oede und Gedanken¬ losigkeit. Gerade diese Regionen sind es aber, in denen Varnhagen sich mit Vor¬ liebe bewegt, aus denen er seine Beobachtungen schöpft, seine Neuigkeiten und Urtheile holt. So bitter und souverain er über dieselben auch urtheilt, die Einflüsse welche sie auf ihn üben werden stärker, je länger er ihnen aus¬ gesetzt ist. Drei Viertheile der Notizen, welche er in dem vorliegenden Bande

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/283>, abgerufen am 28.09.2024.