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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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italischen Vasen zeigen, werden die Figuren immer decorativer angeordnet,
das Beiwerk macht sich immer breiter, auf raumausfüllende Nebendinge wird
immer größeres Gewicht gelegt, und es wird wieder zur Hauptangelegenheit,
Formen und Farben möglichst gleichmäßig über die gegebene Fläche zu ver¬
theilen. Eine ähnliche Erscheinung läßt sich in den römischen Sarkophag-
reliess nachweisen. Den Arbeitern derselben lag so gut wie den Verfertigern
der etruskischen Aschenkisten eine Reihe von Zeichnungen oder Modellen vor,
die sie selten einfach copirt zu haben scheinen. Wie die römischen drama¬
tischen Dichter in der Übertragung griechischer Dramen verfuhren, so conta-
minirten sie Verschiedenartiges, ließen je nach dem Raumbedürfniß weg und
bethätigten ihre Produktivität namentlich durch Hinzufügungen, die sich in
ihrem geringen Werthe als solche leicht verrathen. Mit einer immer zu¬
nehmenden Aengstlichkeit füllten sie jeden leeren Fleck aus, häuften Füllwerk
auf Füllwerk und kamen so schließlich zu Compositionen, die eine gewisse
Verwandtschaft mit Mustern haben. Durch diese Wahrnehmungen stellte es
sich denn als Regel heraus, daß man je überfüllter eine Darstellung ist,
einen desto spätern Ursprung voraussetzen muß; und mit dieser Regel ergab
sich wie von selbst die Anwendung der philologischen Methode bei der Be¬
nutzung alter Handschriften: man sonderte Interpolationen aus, schätzte den
Werth der verschiedenen Ueberlieferungen gegeneinander und suchte aus dieser
Verschiedenheit sich das Archetypon in möglichster Einfachheit wiederherzu¬
stellen. Dies Archetypon selbst war aber wieder ein Abgeleitetes und so er¬
gab sich die weitere Aufgabe, die ältern Originale oder doch die ältern
Motive nachzuweisen.

Untersuchungen der letzteren Art haben nun das für jene Zeit bedeut¬
same Ergebniß festgestellt, daß man mit einer ähnlichen Freiheit, wie sich
die Sprache aus allen Gebieten der geistigen Arbeit recroutirt, in den Nach¬
ahmungen und Verwerthungen älterer Produktionen sich keineswegs auf eine
Form der plastischen Kunst, ja nicht einmal auf die plastische Kunst selbst
beschränkte. Bei einigen Sarkophagreliefs hat man Tempelfriese voraus¬
gesetzt und in einzelnen Fällen recht einleuchtende Beweise beigebracht. Sicher
sind bei weitem häufiger Statuen nachgebildet worden, Die bronzene Nike
in Brescia, vermuthlich ein Originalwerk aus guter griechischer Zeit, eine
in mannigfaltigen Wiederholungen erhaltene Gruppe der nackten Grazien,
welche unter Andern auch von Canova modernisirt worden ist, eine schöne Figur
des geflügelten Schlafgottes von griechischer Erfindung -- er eilt in sanftem
Laufe vorwärts, das müde Haupt niedergesenkt, und schüttet sein Füllhorn
über die Welt aus --, der alte Typus einer jugendlichen Marsfigur, der
medicetschen Venus und Anderes begegnet uns häufig vereinzelt oder in
größeren Darstellungen als Reliefs auf Sarkophagen. Die von Plinius in


italischen Vasen zeigen, werden die Figuren immer decorativer angeordnet,
das Beiwerk macht sich immer breiter, auf raumausfüllende Nebendinge wird
immer größeres Gewicht gelegt, und es wird wieder zur Hauptangelegenheit,
Formen und Farben möglichst gleichmäßig über die gegebene Fläche zu ver¬
theilen. Eine ähnliche Erscheinung läßt sich in den römischen Sarkophag-
reliess nachweisen. Den Arbeitern derselben lag so gut wie den Verfertigern
der etruskischen Aschenkisten eine Reihe von Zeichnungen oder Modellen vor,
die sie selten einfach copirt zu haben scheinen. Wie die römischen drama¬
tischen Dichter in der Übertragung griechischer Dramen verfuhren, so conta-
minirten sie Verschiedenartiges, ließen je nach dem Raumbedürfniß weg und
bethätigten ihre Produktivität namentlich durch Hinzufügungen, die sich in
ihrem geringen Werthe als solche leicht verrathen. Mit einer immer zu¬
nehmenden Aengstlichkeit füllten sie jeden leeren Fleck aus, häuften Füllwerk
auf Füllwerk und kamen so schließlich zu Compositionen, die eine gewisse
Verwandtschaft mit Mustern haben. Durch diese Wahrnehmungen stellte es
sich denn als Regel heraus, daß man je überfüllter eine Darstellung ist,
einen desto spätern Ursprung voraussetzen muß; und mit dieser Regel ergab
sich wie von selbst die Anwendung der philologischen Methode bei der Be¬
nutzung alter Handschriften: man sonderte Interpolationen aus, schätzte den
Werth der verschiedenen Ueberlieferungen gegeneinander und suchte aus dieser
Verschiedenheit sich das Archetypon in möglichster Einfachheit wiederherzu¬
stellen. Dies Archetypon selbst war aber wieder ein Abgeleitetes und so er¬
gab sich die weitere Aufgabe, die ältern Originale oder doch die ältern
Motive nachzuweisen.

Untersuchungen der letzteren Art haben nun das für jene Zeit bedeut¬
same Ergebniß festgestellt, daß man mit einer ähnlichen Freiheit, wie sich
die Sprache aus allen Gebieten der geistigen Arbeit recroutirt, in den Nach¬
ahmungen und Verwerthungen älterer Produktionen sich keineswegs auf eine
Form der plastischen Kunst, ja nicht einmal auf die plastische Kunst selbst
beschränkte. Bei einigen Sarkophagreliefs hat man Tempelfriese voraus¬
gesetzt und in einzelnen Fällen recht einleuchtende Beweise beigebracht. Sicher
sind bei weitem häufiger Statuen nachgebildet worden, Die bronzene Nike
in Brescia, vermuthlich ein Originalwerk aus guter griechischer Zeit, eine
in mannigfaltigen Wiederholungen erhaltene Gruppe der nackten Grazien,
welche unter Andern auch von Canova modernisirt worden ist, eine schöne Figur
des geflügelten Schlafgottes von griechischer Erfindung — er eilt in sanftem
Laufe vorwärts, das müde Haupt niedergesenkt, und schüttet sein Füllhorn
über die Welt aus —, der alte Typus einer jugendlichen Marsfigur, der
medicetschen Venus und Anderes begegnet uns häufig vereinzelt oder in
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[0265] italischen Vasen zeigen, werden die Figuren immer decorativer angeordnet, das Beiwerk macht sich immer breiter, auf raumausfüllende Nebendinge wird immer größeres Gewicht gelegt, und es wird wieder zur Hauptangelegenheit, Formen und Farben möglichst gleichmäßig über die gegebene Fläche zu ver¬ theilen. Eine ähnliche Erscheinung läßt sich in den römischen Sarkophag- reliess nachweisen. Den Arbeitern derselben lag so gut wie den Verfertigern der etruskischen Aschenkisten eine Reihe von Zeichnungen oder Modellen vor, die sie selten einfach copirt zu haben scheinen. Wie die römischen drama¬ tischen Dichter in der Übertragung griechischer Dramen verfuhren, so conta- minirten sie Verschiedenartiges, ließen je nach dem Raumbedürfniß weg und bethätigten ihre Produktivität namentlich durch Hinzufügungen, die sich in ihrem geringen Werthe als solche leicht verrathen. Mit einer immer zu¬ nehmenden Aengstlichkeit füllten sie jeden leeren Fleck aus, häuften Füllwerk auf Füllwerk und kamen so schließlich zu Compositionen, die eine gewisse Verwandtschaft mit Mustern haben. Durch diese Wahrnehmungen stellte es sich denn als Regel heraus, daß man je überfüllter eine Darstellung ist, einen desto spätern Ursprung voraussetzen muß; und mit dieser Regel ergab sich wie von selbst die Anwendung der philologischen Methode bei der Be¬ nutzung alter Handschriften: man sonderte Interpolationen aus, schätzte den Werth der verschiedenen Ueberlieferungen gegeneinander und suchte aus dieser Verschiedenheit sich das Archetypon in möglichster Einfachheit wiederherzu¬ stellen. Dies Archetypon selbst war aber wieder ein Abgeleitetes und so er¬ gab sich die weitere Aufgabe, die ältern Originale oder doch die ältern Motive nachzuweisen. Untersuchungen der letzteren Art haben nun das für jene Zeit bedeut¬ same Ergebniß festgestellt, daß man mit einer ähnlichen Freiheit, wie sich die Sprache aus allen Gebieten der geistigen Arbeit recroutirt, in den Nach¬ ahmungen und Verwerthungen älterer Produktionen sich keineswegs auf eine Form der plastischen Kunst, ja nicht einmal auf die plastische Kunst selbst beschränkte. Bei einigen Sarkophagreliefs hat man Tempelfriese voraus¬ gesetzt und in einzelnen Fällen recht einleuchtende Beweise beigebracht. Sicher sind bei weitem häufiger Statuen nachgebildet worden, Die bronzene Nike in Brescia, vermuthlich ein Originalwerk aus guter griechischer Zeit, eine in mannigfaltigen Wiederholungen erhaltene Gruppe der nackten Grazien, welche unter Andern auch von Canova modernisirt worden ist, eine schöne Figur des geflügelten Schlafgottes von griechischer Erfindung — er eilt in sanftem Laufe vorwärts, das müde Haupt niedergesenkt, und schüttet sein Füllhorn über die Welt aus —, der alte Typus einer jugendlichen Marsfigur, der medicetschen Venus und Anderes begegnet uns häufig vereinzelt oder in größeren Darstellungen als Reliefs auf Sarkophagen. Die von Plinius in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/265>, abgerufen am 20.10.2024.