Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Indem man einen solchen ins Leben ruft, stellt man für die Behand¬
lung dieser Aufgaben erst die rechte Temperatur und Atmosphäre her. Man
hält fern solche Geister, die für praktische Fragen einmal keinen Sinn haben,
sondern gern alles theoretisch auffassen und behandeln; man zieht ganze Kreise
neu heran, die der specifisch gelehrte, akademische Charakter der Naturforscher-
Congresse immer abhalten wird, diese regelmäßig zu besuchen. Es würde
wenig nützen, wollte man jeden Freund der öffentlichen Gesundheitspflege auf¬
fordern, sich an den Verhandlungen und Arbeiten einer derselben gewidmeten
Section des Congresses deutscher Naturforscher und Aerzte zu betheiligen.
Nur die Wenigsten würden davon Gebrauch machen: theils weil es unbequem
ist, sich aus einer Masse fremdartigen Stoffes ein zusagendes einzelnes Körn¬
chen herauszupicken, theils weil ja selbst in der einzigen Abtheilung des
Ganzen, welche sie anzöge, eine abstract theoretische Behandlung der Sache
leicht überwiegen könnte. Gerade auf diese nicht gelehrten, wenigstens nicht
naturwissenschaftlich-gelehrten Freunde der Gesundheitspflege aber kommt es
wesentlich an. Die Aerzte haben viel geringeren unmittelbaren Einfluß auf
die meisten sanitären Reformen, welche die Zeit verlangt, als manche Staats¬
und alle Gemeindebeamte, sammt den Volksvertretern in den Kammern
und den activen Kräften der Presse. Wenn sie nicht zufällig selbst nebenbei
Politiker sind, entbehren sie meist sogar der gewöhnlichsten agitatorischen
Fähigkeit zur Verallgemeinerung ihrer besseren Einsicht und zur Durchsetzung
der Forderungen des Tags. Die Aerzte zu Trägern dieser letzteren zu machen
ist gut, wichtiger aber, daß man Bürgermeister, Stadträthe und Stadtver¬
ordnete mit dem Bewußtsein ihrer Unabweisbarkeit erfüllt. Denn sie sind
es am Ende vornehmlich, welche Reformen zu verwirklichen vermögen. Wenn
für die mancherlei großen und dringenden Anliegen der öffentlichen Gesund¬
heitspflege, welche in Deutschland fast durchweg noch unerfüllt sind, das
mächtige Mittel eines Wandercongresses überhaupt aufgeboten werden soll,
so wende man es auch unverkümmert an, damit die rechten, wünschens-
werthesten Theilnehmer zusammenströmen und auch der jedesmalige Ver¬
sammlungsort so gewählt werden kann, wie es diesem einen Interesse ent¬
spricht, z. B. Hamburg und nicht Innsbruck -- wo 1869 die Naturforscher
und Aerzte tagen werden -- wenn es sich um die Oeularinspection einer
längst durchgeführten städtischen Canalisirung handelt, oder München, wenn
man etwa die thatsächlichen Hilfsmittel oder Proben zu Pettenkofer's, Von's
und Buhl's biologischen Theoremen in Augenschein nehmen will.

Die Weimarer Choleraconferenz vom Frühling 1867 auf der einen, die
beiden letzten Naturforscher-Congresse auf der anderen Seite haben die Idee
eines besonderen Gesundheitspflege-Congresses schon außerordentlich nahe ge¬
legt. Sie zu realisiren könnte unmöglich schwer fallen, wenn solche Potenzen,


Indem man einen solchen ins Leben ruft, stellt man für die Behand¬
lung dieser Aufgaben erst die rechte Temperatur und Atmosphäre her. Man
hält fern solche Geister, die für praktische Fragen einmal keinen Sinn haben,
sondern gern alles theoretisch auffassen und behandeln; man zieht ganze Kreise
neu heran, die der specifisch gelehrte, akademische Charakter der Naturforscher-
Congresse immer abhalten wird, diese regelmäßig zu besuchen. Es würde
wenig nützen, wollte man jeden Freund der öffentlichen Gesundheitspflege auf¬
fordern, sich an den Verhandlungen und Arbeiten einer derselben gewidmeten
Section des Congresses deutscher Naturforscher und Aerzte zu betheiligen.
Nur die Wenigsten würden davon Gebrauch machen: theils weil es unbequem
ist, sich aus einer Masse fremdartigen Stoffes ein zusagendes einzelnes Körn¬
chen herauszupicken, theils weil ja selbst in der einzigen Abtheilung des
Ganzen, welche sie anzöge, eine abstract theoretische Behandlung der Sache
leicht überwiegen könnte. Gerade auf diese nicht gelehrten, wenigstens nicht
naturwissenschaftlich-gelehrten Freunde der Gesundheitspflege aber kommt es
wesentlich an. Die Aerzte haben viel geringeren unmittelbaren Einfluß auf
die meisten sanitären Reformen, welche die Zeit verlangt, als manche Staats¬
und alle Gemeindebeamte, sammt den Volksvertretern in den Kammern
und den activen Kräften der Presse. Wenn sie nicht zufällig selbst nebenbei
Politiker sind, entbehren sie meist sogar der gewöhnlichsten agitatorischen
Fähigkeit zur Verallgemeinerung ihrer besseren Einsicht und zur Durchsetzung
der Forderungen des Tags. Die Aerzte zu Trägern dieser letzteren zu machen
ist gut, wichtiger aber, daß man Bürgermeister, Stadträthe und Stadtver¬
ordnete mit dem Bewußtsein ihrer Unabweisbarkeit erfüllt. Denn sie sind
es am Ende vornehmlich, welche Reformen zu verwirklichen vermögen. Wenn
für die mancherlei großen und dringenden Anliegen der öffentlichen Gesund¬
heitspflege, welche in Deutschland fast durchweg noch unerfüllt sind, das
mächtige Mittel eines Wandercongresses überhaupt aufgeboten werden soll,
so wende man es auch unverkümmert an, damit die rechten, wünschens-
werthesten Theilnehmer zusammenströmen und auch der jedesmalige Ver¬
sammlungsort so gewählt werden kann, wie es diesem einen Interesse ent¬
spricht, z. B. Hamburg und nicht Innsbruck — wo 1869 die Naturforscher
und Aerzte tagen werden — wenn es sich um die Oeularinspection einer
längst durchgeführten städtischen Canalisirung handelt, oder München, wenn
man etwa die thatsächlichen Hilfsmittel oder Proben zu Pettenkofer's, Von's
und Buhl's biologischen Theoremen in Augenschein nehmen will.

Die Weimarer Choleraconferenz vom Frühling 1867 auf der einen, die
beiden letzten Naturforscher-Congresse auf der anderen Seite haben die Idee
eines besonderen Gesundheitspflege-Congresses schon außerordentlich nahe ge¬
legt. Sie zu realisiren könnte unmöglich schwer fallen, wenn solche Potenzen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0026" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120215"/>
          <p xml:id="ID_59"> Indem man einen solchen ins Leben ruft, stellt man für die Behand¬<lb/>
lung dieser Aufgaben erst die rechte Temperatur und Atmosphäre her. Man<lb/>
hält fern solche Geister, die für praktische Fragen einmal keinen Sinn haben,<lb/>
sondern gern alles theoretisch auffassen und behandeln; man zieht ganze Kreise<lb/>
neu heran, die der specifisch gelehrte, akademische Charakter der Naturforscher-<lb/>
Congresse immer abhalten wird, diese regelmäßig zu besuchen. Es würde<lb/>
wenig nützen, wollte man jeden Freund der öffentlichen Gesundheitspflege auf¬<lb/>
fordern, sich an den Verhandlungen und Arbeiten einer derselben gewidmeten<lb/>
Section des Congresses deutscher Naturforscher und Aerzte zu betheiligen.<lb/>
Nur die Wenigsten würden davon Gebrauch machen: theils weil es unbequem<lb/>
ist, sich aus einer Masse fremdartigen Stoffes ein zusagendes einzelnes Körn¬<lb/>
chen herauszupicken, theils weil ja selbst in der einzigen Abtheilung des<lb/>
Ganzen, welche sie anzöge, eine abstract theoretische Behandlung der Sache<lb/>
leicht überwiegen könnte. Gerade auf diese nicht gelehrten, wenigstens nicht<lb/>
naturwissenschaftlich-gelehrten Freunde der Gesundheitspflege aber kommt es<lb/>
wesentlich an. Die Aerzte haben viel geringeren unmittelbaren Einfluß auf<lb/>
die meisten sanitären Reformen, welche die Zeit verlangt, als manche Staats¬<lb/>
und alle Gemeindebeamte, sammt den Volksvertretern in den Kammern<lb/>
und den activen Kräften der Presse. Wenn sie nicht zufällig selbst nebenbei<lb/>
Politiker sind, entbehren sie meist sogar der gewöhnlichsten agitatorischen<lb/>
Fähigkeit zur Verallgemeinerung ihrer besseren Einsicht und zur Durchsetzung<lb/>
der Forderungen des Tags. Die Aerzte zu Trägern dieser letzteren zu machen<lb/>
ist gut, wichtiger aber, daß man Bürgermeister, Stadträthe und Stadtver¬<lb/>
ordnete mit dem Bewußtsein ihrer Unabweisbarkeit erfüllt. Denn sie sind<lb/>
es am Ende vornehmlich, welche Reformen zu verwirklichen vermögen. Wenn<lb/>
für die mancherlei großen und dringenden Anliegen der öffentlichen Gesund¬<lb/>
heitspflege, welche in Deutschland fast durchweg noch unerfüllt sind, das<lb/>
mächtige Mittel eines Wandercongresses überhaupt aufgeboten werden soll,<lb/>
so wende man es auch unverkümmert an, damit die rechten, wünschens-<lb/>
werthesten Theilnehmer zusammenströmen und auch der jedesmalige Ver¬<lb/>
sammlungsort so gewählt werden kann, wie es diesem einen Interesse ent¬<lb/>
spricht, z. B. Hamburg und nicht Innsbruck &#x2014; wo 1869 die Naturforscher<lb/>
und Aerzte tagen werden &#x2014; wenn es sich um die Oeularinspection einer<lb/>
längst durchgeführten städtischen Canalisirung handelt, oder München, wenn<lb/>
man etwa die thatsächlichen Hilfsmittel oder Proben zu Pettenkofer's, Von's<lb/>
und Buhl's biologischen Theoremen in Augenschein nehmen will.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_60" next="#ID_61"> Die Weimarer Choleraconferenz vom Frühling 1867 auf der einen, die<lb/>
beiden letzten Naturforscher-Congresse auf der anderen Seite haben die Idee<lb/>
eines besonderen Gesundheitspflege-Congresses schon außerordentlich nahe ge¬<lb/>
legt. Sie zu realisiren könnte unmöglich schwer fallen, wenn solche Potenzen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0026] Indem man einen solchen ins Leben ruft, stellt man für die Behand¬ lung dieser Aufgaben erst die rechte Temperatur und Atmosphäre her. Man hält fern solche Geister, die für praktische Fragen einmal keinen Sinn haben, sondern gern alles theoretisch auffassen und behandeln; man zieht ganze Kreise neu heran, die der specifisch gelehrte, akademische Charakter der Naturforscher- Congresse immer abhalten wird, diese regelmäßig zu besuchen. Es würde wenig nützen, wollte man jeden Freund der öffentlichen Gesundheitspflege auf¬ fordern, sich an den Verhandlungen und Arbeiten einer derselben gewidmeten Section des Congresses deutscher Naturforscher und Aerzte zu betheiligen. Nur die Wenigsten würden davon Gebrauch machen: theils weil es unbequem ist, sich aus einer Masse fremdartigen Stoffes ein zusagendes einzelnes Körn¬ chen herauszupicken, theils weil ja selbst in der einzigen Abtheilung des Ganzen, welche sie anzöge, eine abstract theoretische Behandlung der Sache leicht überwiegen könnte. Gerade auf diese nicht gelehrten, wenigstens nicht naturwissenschaftlich-gelehrten Freunde der Gesundheitspflege aber kommt es wesentlich an. Die Aerzte haben viel geringeren unmittelbaren Einfluß auf die meisten sanitären Reformen, welche die Zeit verlangt, als manche Staats¬ und alle Gemeindebeamte, sammt den Volksvertretern in den Kammern und den activen Kräften der Presse. Wenn sie nicht zufällig selbst nebenbei Politiker sind, entbehren sie meist sogar der gewöhnlichsten agitatorischen Fähigkeit zur Verallgemeinerung ihrer besseren Einsicht und zur Durchsetzung der Forderungen des Tags. Die Aerzte zu Trägern dieser letzteren zu machen ist gut, wichtiger aber, daß man Bürgermeister, Stadträthe und Stadtver¬ ordnete mit dem Bewußtsein ihrer Unabweisbarkeit erfüllt. Denn sie sind es am Ende vornehmlich, welche Reformen zu verwirklichen vermögen. Wenn für die mancherlei großen und dringenden Anliegen der öffentlichen Gesund¬ heitspflege, welche in Deutschland fast durchweg noch unerfüllt sind, das mächtige Mittel eines Wandercongresses überhaupt aufgeboten werden soll, so wende man es auch unverkümmert an, damit die rechten, wünschens- werthesten Theilnehmer zusammenströmen und auch der jedesmalige Ver¬ sammlungsort so gewählt werden kann, wie es diesem einen Interesse ent¬ spricht, z. B. Hamburg und nicht Innsbruck — wo 1869 die Naturforscher und Aerzte tagen werden — wenn es sich um die Oeularinspection einer längst durchgeführten städtischen Canalisirung handelt, oder München, wenn man etwa die thatsächlichen Hilfsmittel oder Proben zu Pettenkofer's, Von's und Buhl's biologischen Theoremen in Augenschein nehmen will. Die Weimarer Choleraconferenz vom Frühling 1867 auf der einen, die beiden letzten Naturforscher-Congresse auf der anderen Seite haben die Idee eines besonderen Gesundheitspflege-Congresses schon außerordentlich nahe ge¬ legt. Sie zu realisiren könnte unmöglich schwer fallen, wenn solche Potenzen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/26
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/26>, abgerufen am 28.09.2024.