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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Umbildung? Offenbar muß mithin jede den Niobiden zugehörige Statue dar¬
auf angesehen werden, ob sie nicht ursprünglich ein Bruchstück einer Gruppe
ist, das wie jene Halbmenschen des Aristophanes seine Hälfte sucht.

Wohin haben uns von jener heiteren Zuversicht, welche in den beim
Lateran gefundenen Statuen die Gruppe des Plinius erkannte, die zahl¬
reichen neuen Entdeckungen geführt, wenn es sich auch nur um die beschei¬
denere Frage handelt, wieweit uns die erhaltenen Statuen sicheres Material
zur Restitution jener berühmten Gruppe bieten? Zu dem ehrlichen Bekennt¬
niß, daß sie uns nicht in den Stand setzen, auf irgend eine der darauf be¬
züglichen Fragen eine begründete und entscheidende Antwort zu geben. Wir
wissen nicht, welche von den erhaltenen Statuen den Originalen jener Gruppe
nachgebildet sind, welche nicht. Wir können nicht ermessen, wieweit die Ver¬
änderungen gingen, welche sich die Copisten erlaubten. Wir haben keine Vor¬
stellung von dem Umfang der Originalgruppe, um daran nur einen unge¬
fähren Anhalt für die Begrenzung der Auswahl zu finden. Wir sind nicht
im Stande, aus den erhaltenen, auf die Niobesage bezüglichen Statuen und
Gruppen insgesammt oder mit Auswahl eine befriedigende Composition her¬
zustellen, geschweige daß wir über Anordnung und Ausstellung der Gruppe
des Plinius auch nur zu wahrscheinlichen Resultaten gelangen könnten.

Schwache Gemüther beunruhigt es wohl, wenn die durch neue Ent¬
deckungen und geschärfte Beobachtung hervorgerufene methodische Prüfung
allgemein giltige und durch die Gewohnheit lieb oder bequem gewordene Vor¬
stellungen als unwahr oder doch unbeweislich zurückweist, ohne daß es ihr
zugleich gelingt, ein neues sicheres und befriedigendes Resultat an die Stelle
zu setzen. Dann pflegt man auf die destructive Kritik zu schelten, die nur
negiren könne. Als ob es kein positiver Gewinn wäre, wenn das Unwahre
und Unhaltbare als solches erkannt und nachgewiesen, für die Wahrheit freie
Bahn geschaffen, der Blick für die Auffindung und Würdigung der Elemente
des Richtigen, wo sie sich auch darbieten, unbefangen und hell gemacht ist.
Daß Schnellsein noch nicht zum Laufen hilft, gilt besonders von der wissen¬
schaftlichen Forschung, welche vor allem darüber strenge Rechenschaft verlangt,
ob die thatsächlichen Elemente vorhanden sind, aus denen sich sichere Resul¬
tate oder beweisbare Combinationen gewinnen lassen. Da jede Hypothese
dem nur aus Thatsachen zu schöpfenden Beweis der objectiven Wahrheit
vorgreift, hat sie nur insoweit wissenschaftliche Bedeutung, als sie zur Klar¬
heit bringt, daß sie auf sicherem Grunde stehend mit sicheren Factoren nach
sicheren Gesetzen operirend die geahnte Thatsache zu errathen sucht. Nur so
wird die nachträgliche Bestätigung durch neu entdeckte Thatsachen ein Triumph
der Wissenschaft, nur so kann auch der durch neu gewonnene Facta auf¬
gedeckte Irrthum belehrend werden, während selbst scharfsinnige Einfälle im


Umbildung? Offenbar muß mithin jede den Niobiden zugehörige Statue dar¬
auf angesehen werden, ob sie nicht ursprünglich ein Bruchstück einer Gruppe
ist, das wie jene Halbmenschen des Aristophanes seine Hälfte sucht.

Wohin haben uns von jener heiteren Zuversicht, welche in den beim
Lateran gefundenen Statuen die Gruppe des Plinius erkannte, die zahl¬
reichen neuen Entdeckungen geführt, wenn es sich auch nur um die beschei¬
denere Frage handelt, wieweit uns die erhaltenen Statuen sicheres Material
zur Restitution jener berühmten Gruppe bieten? Zu dem ehrlichen Bekennt¬
niß, daß sie uns nicht in den Stand setzen, auf irgend eine der darauf be¬
züglichen Fragen eine begründete und entscheidende Antwort zu geben. Wir
wissen nicht, welche von den erhaltenen Statuen den Originalen jener Gruppe
nachgebildet sind, welche nicht. Wir können nicht ermessen, wieweit die Ver¬
änderungen gingen, welche sich die Copisten erlaubten. Wir haben keine Vor¬
stellung von dem Umfang der Originalgruppe, um daran nur einen unge¬
fähren Anhalt für die Begrenzung der Auswahl zu finden. Wir sind nicht
im Stande, aus den erhaltenen, auf die Niobesage bezüglichen Statuen und
Gruppen insgesammt oder mit Auswahl eine befriedigende Composition her¬
zustellen, geschweige daß wir über Anordnung und Ausstellung der Gruppe
des Plinius auch nur zu wahrscheinlichen Resultaten gelangen könnten.

Schwache Gemüther beunruhigt es wohl, wenn die durch neue Ent¬
deckungen und geschärfte Beobachtung hervorgerufene methodische Prüfung
allgemein giltige und durch die Gewohnheit lieb oder bequem gewordene Vor¬
stellungen als unwahr oder doch unbeweislich zurückweist, ohne daß es ihr
zugleich gelingt, ein neues sicheres und befriedigendes Resultat an die Stelle
zu setzen. Dann pflegt man auf die destructive Kritik zu schelten, die nur
negiren könne. Als ob es kein positiver Gewinn wäre, wenn das Unwahre
und Unhaltbare als solches erkannt und nachgewiesen, für die Wahrheit freie
Bahn geschaffen, der Blick für die Auffindung und Würdigung der Elemente
des Richtigen, wo sie sich auch darbieten, unbefangen und hell gemacht ist.
Daß Schnellsein noch nicht zum Laufen hilft, gilt besonders von der wissen¬
schaftlichen Forschung, welche vor allem darüber strenge Rechenschaft verlangt,
ob die thatsächlichen Elemente vorhanden sind, aus denen sich sichere Resul¬
tate oder beweisbare Combinationen gewinnen lassen. Da jede Hypothese
dem nur aus Thatsachen zu schöpfenden Beweis der objectiven Wahrheit
vorgreift, hat sie nur insoweit wissenschaftliche Bedeutung, als sie zur Klar¬
heit bringt, daß sie auf sicherem Grunde stehend mit sicheren Factoren nach
sicheren Gesetzen operirend die geahnte Thatsache zu errathen sucht. Nur so
wird die nachträgliche Bestätigung durch neu entdeckte Thatsachen ein Triumph
der Wissenschaft, nur so kann auch der durch neu gewonnene Facta auf¬
gedeckte Irrthum belehrend werden, während selbst scharfsinnige Einfälle im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/97>, abgerufen am 15.01.2025.