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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Wie oben erwähnt, gehört der südlichste Theil des alten Herzogthums
Samogitien zum Königreich Polen, Gouvernement Augustowo. Während
der ersten Monate, nach dem Aufstande von 1863 war wiederholt davon
die Rede, dasselbe wegen seiner samogitischen Landbevölkerung und der zahl¬
reich vorhandenen unirten Gemeinden vom Königreich abzulösen und zum
General-Gouvernement Wilna zu schlagen; längere Zeit hindurch stand der
Befehlshaber dieser Provinz nicht unter dem warschauer Statthalter, sondern
unter der Botmäßigkeit Murawjews. In der Folge wurde dieses Projekt
aufgegeben, wahrscheinlich weil die Zahl der Polen dieses Landestheils und
seiner Städte Suwalky, Kalwaria, Wladislawow und Serrey ungleich größer
ist als in den zum Gouvernement Kowno gehörigen Kreisen. Schon weil
Nord-Augustowo nach der dritten Theilung Polens zwölf Jahre lang (1795
bis 1807) zu Neu-Ostpreußen gehörte, ist auch das städtische deutsche Ele¬
ment hier ungleich stärker als in den Orten des angrenzenden kownoschen
Samogitien. Das Gleiche gilt von den an der preußischen Grenze liegenden
Kreisen und den Städten Tauroggen und Georgenburg, die immerwährenden
Berührungen mit den Einwohnern des gumbinner Regierungsbezirks aus¬
gesetzt sind und zahlreiche deutsche Kaufleute, Spediteure und Agenten zu
Einwohnern haben. -- Die große Zeit dieser heute im Rückgang begriffenen
Grenzorte waren die Jahre 1833 bis 1856. Englische und französische Kriegs¬
schiffe blokirten damals die russischen Ostseehäfen und der gesammte Handels¬
verkehr Libaus, Rigas, Pernaus, Revals und Petersburgs mußte seinen
Weg über die Tauroggner Chaussee nach Memel und Königsberg nehmen.
Viele Tausende von Fuhren bedeckten die umliegenden Landstraßen, die
Kaufleute, welche in Tauroggen oder Georgenburg kleine Commanditen be¬
saßen, erweiterten dieselben zu großen Comptoirs und verdienten im Verlauf
weniger Monate ungeheure Summen. Die ländliche Bevölkerung verließ
Acker und Pflug und nahm Fuhrmannsdienste, die zu unerhörten Preisen
bezahlt wurden. Der Verkehr nahm so ungeheure Proportionen an, daß die
sonst trefflich gehaltene Chaussee binnen kurzem vollständig zerstört war; die
Steinschüttungen, welche ihre Oberfläche bedeckten, sanken unter dem Gewicht
der riesigen Lastwagen zusammen und als der Frieden geschlossen wurde,
waren Monate erforderlich, bevor die Abgründe und Senkungen ausgefüllt
werden konnten, welche meilenweit das Land bedeckten. Wenig später wurde
die Wirballen-Petersburger Eisenbahn in Angriff genommen und seit ihrer
Vollendung spielen die einst so wichtigen samogitischen Grenzorte eine blos
untergeordnete Rolle. Wichtig sind sie nur noch in einer Beziehung: als
Stapelplätze des ausgedehnten Schmuggels, der -- Dank dem widersinnigen
Prohibitivsystem an der gesammten preußisch-russischen Grenze --schwung¬
haft betrieben wird und wesentlich zur Verwilderung und Entsittlichung der


Wie oben erwähnt, gehört der südlichste Theil des alten Herzogthums
Samogitien zum Königreich Polen, Gouvernement Augustowo. Während
der ersten Monate, nach dem Aufstande von 1863 war wiederholt davon
die Rede, dasselbe wegen seiner samogitischen Landbevölkerung und der zahl¬
reich vorhandenen unirten Gemeinden vom Königreich abzulösen und zum
General-Gouvernement Wilna zu schlagen; längere Zeit hindurch stand der
Befehlshaber dieser Provinz nicht unter dem warschauer Statthalter, sondern
unter der Botmäßigkeit Murawjews. In der Folge wurde dieses Projekt
aufgegeben, wahrscheinlich weil die Zahl der Polen dieses Landestheils und
seiner Städte Suwalky, Kalwaria, Wladislawow und Serrey ungleich größer
ist als in den zum Gouvernement Kowno gehörigen Kreisen. Schon weil
Nord-Augustowo nach der dritten Theilung Polens zwölf Jahre lang (1795
bis 1807) zu Neu-Ostpreußen gehörte, ist auch das städtische deutsche Ele¬
ment hier ungleich stärker als in den Orten des angrenzenden kownoschen
Samogitien. Das Gleiche gilt von den an der preußischen Grenze liegenden
Kreisen und den Städten Tauroggen und Georgenburg, die immerwährenden
Berührungen mit den Einwohnern des gumbinner Regierungsbezirks aus¬
gesetzt sind und zahlreiche deutsche Kaufleute, Spediteure und Agenten zu
Einwohnern haben. — Die große Zeit dieser heute im Rückgang begriffenen
Grenzorte waren die Jahre 1833 bis 1856. Englische und französische Kriegs¬
schiffe blokirten damals die russischen Ostseehäfen und der gesammte Handels¬
verkehr Libaus, Rigas, Pernaus, Revals und Petersburgs mußte seinen
Weg über die Tauroggner Chaussee nach Memel und Königsberg nehmen.
Viele Tausende von Fuhren bedeckten die umliegenden Landstraßen, die
Kaufleute, welche in Tauroggen oder Georgenburg kleine Commanditen be¬
saßen, erweiterten dieselben zu großen Comptoirs und verdienten im Verlauf
weniger Monate ungeheure Summen. Die ländliche Bevölkerung verließ
Acker und Pflug und nahm Fuhrmannsdienste, die zu unerhörten Preisen
bezahlt wurden. Der Verkehr nahm so ungeheure Proportionen an, daß die
sonst trefflich gehaltene Chaussee binnen kurzem vollständig zerstört war; die
Steinschüttungen, welche ihre Oberfläche bedeckten, sanken unter dem Gewicht
der riesigen Lastwagen zusammen und als der Frieden geschlossen wurde,
waren Monate erforderlich, bevor die Abgründe und Senkungen ausgefüllt
werden konnten, welche meilenweit das Land bedeckten. Wenig später wurde
die Wirballen-Petersburger Eisenbahn in Angriff genommen und seit ihrer
Vollendung spielen die einst so wichtigen samogitischen Grenzorte eine blos
untergeordnete Rolle. Wichtig sind sie nur noch in einer Beziehung: als
Stapelplätze des ausgedehnten Schmuggels, der — Dank dem widersinnigen
Prohibitivsystem an der gesammten preußisch-russischen Grenze —schwung¬
haft betrieben wird und wesentlich zur Verwilderung und Entsittlichung der


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[0460] Wie oben erwähnt, gehört der südlichste Theil des alten Herzogthums Samogitien zum Königreich Polen, Gouvernement Augustowo. Während der ersten Monate, nach dem Aufstande von 1863 war wiederholt davon die Rede, dasselbe wegen seiner samogitischen Landbevölkerung und der zahl¬ reich vorhandenen unirten Gemeinden vom Königreich abzulösen und zum General-Gouvernement Wilna zu schlagen; längere Zeit hindurch stand der Befehlshaber dieser Provinz nicht unter dem warschauer Statthalter, sondern unter der Botmäßigkeit Murawjews. In der Folge wurde dieses Projekt aufgegeben, wahrscheinlich weil die Zahl der Polen dieses Landestheils und seiner Städte Suwalky, Kalwaria, Wladislawow und Serrey ungleich größer ist als in den zum Gouvernement Kowno gehörigen Kreisen. Schon weil Nord-Augustowo nach der dritten Theilung Polens zwölf Jahre lang (1795 bis 1807) zu Neu-Ostpreußen gehörte, ist auch das städtische deutsche Ele¬ ment hier ungleich stärker als in den Orten des angrenzenden kownoschen Samogitien. Das Gleiche gilt von den an der preußischen Grenze liegenden Kreisen und den Städten Tauroggen und Georgenburg, die immerwährenden Berührungen mit den Einwohnern des gumbinner Regierungsbezirks aus¬ gesetzt sind und zahlreiche deutsche Kaufleute, Spediteure und Agenten zu Einwohnern haben. — Die große Zeit dieser heute im Rückgang begriffenen Grenzorte waren die Jahre 1833 bis 1856. Englische und französische Kriegs¬ schiffe blokirten damals die russischen Ostseehäfen und der gesammte Handels¬ verkehr Libaus, Rigas, Pernaus, Revals und Petersburgs mußte seinen Weg über die Tauroggner Chaussee nach Memel und Königsberg nehmen. Viele Tausende von Fuhren bedeckten die umliegenden Landstraßen, die Kaufleute, welche in Tauroggen oder Georgenburg kleine Commanditen be¬ saßen, erweiterten dieselben zu großen Comptoirs und verdienten im Verlauf weniger Monate ungeheure Summen. Die ländliche Bevölkerung verließ Acker und Pflug und nahm Fuhrmannsdienste, die zu unerhörten Preisen bezahlt wurden. Der Verkehr nahm so ungeheure Proportionen an, daß die sonst trefflich gehaltene Chaussee binnen kurzem vollständig zerstört war; die Steinschüttungen, welche ihre Oberfläche bedeckten, sanken unter dem Gewicht der riesigen Lastwagen zusammen und als der Frieden geschlossen wurde, waren Monate erforderlich, bevor die Abgründe und Senkungen ausgefüllt werden konnten, welche meilenweit das Land bedeckten. Wenig später wurde die Wirballen-Petersburger Eisenbahn in Angriff genommen und seit ihrer Vollendung spielen die einst so wichtigen samogitischen Grenzorte eine blos untergeordnete Rolle. Wichtig sind sie nur noch in einer Beziehung: als Stapelplätze des ausgedehnten Schmuggels, der — Dank dem widersinnigen Prohibitivsystem an der gesammten preußisch-russischen Grenze —schwung¬ haft betrieben wird und wesentlich zur Verwilderung und Entsittlichung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/460>, abgerufen am 15.01.2025.