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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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blick in die verschiedensten Lebenskreise, sie schmückt mit den heiteren Farben
der Poesie die Empfindung auch des Kleinen und stellt gegen den Druck
harter Wirklichkeit eine Fülle von idealen Stimmungen, sie bildet den Aus¬
druck warmen Gefühls, die Formen geselligen Verkehrs in dem Hörer heraus;
sie erhält in der Noth und den Räthseln des Erdenlebens ein Gefühl sou-
verainer Freiheit, denn sie stellt einen vernünftigen Zusammenhang zwi¬
schen Schuld und Strafe, zwischen lächerlicher Verkehrtheit und den Fol¬
gen derselben hoch imponirend dar. Und diese ethischen Wirkungen des
Theaters sind gerade für den Menschen in engen Verhältnissen bei seltenem
Genuß die größten; sie verbinden sein Gemüthsleben ebenso innig mit den
anspruchsvolleren Kreisen der Gesellschaft, als die Zeitungen ihm seine realen
Interessen mit den Forderungen von Millionen mitlebender Menschen zu¬
sammenschließen. Diese Culturbedeutung der Bühne ist bis zu gewissem
Grade unabhängig geworden von der Energie modernen Dichterschaffens,
denn ein großer Theil unseres Repertoirs wird durch Stücke früherer
Zeit gebildet, dieser Segen wirkt auch noch da, wo eine mäßige Tüchtig¬
keit der Schauspieler dauert. Er geht freilich verloren und wandelt sich in
Unsegen, wo das Gemeine, Unschöne, Fratzenhafte den ehrlichen Kunstbe¬
trieb überwuchert.

Daß die Bühne ein wesentliches Moment unserer Cultur wurde und die
Zahl der festen Bühnen so hoch stieg, das hat der Kunst wohl und wehe
gethan; denn die breite Ausdehnung der Theater hat eine eigene umfangreiche
Theaterindustrie hervbrgerufen, Unternehmer, Agenten und geschäftliche Spe-
culationen. In allen großen Städten machte sich mit dem zunehmenden
Wohlstand und einer wachsenden Zuschauerzahl der Wunsch geltend, statt¬
liche und größere Bühnenräume zu schaffen, zumal da, wo Oper, Ballet
und Schauspiel nicht getrennt waren.

Man hatte sich lange geärgert über enge, schmucklose und sehr unbe¬
queme Häuser, welche das vorige und die ersten Jahrzehnte des gegenwärti¬
gen Jahrhunderts hinterließen; auch die Möglichkeit größerer Einnahmen
lockte, 'und nicht zuletzt die edlere Freude unserer Zeit an umfangreicher Ge¬
selligkeit und an Popularisirung alles Wahren und Schönen. So entstan¬
den die neuen Hoftheater von Dresden, München u. s. w., die großen Stadt¬
theater in Königsberg, Hamburg, Köln, Breslau, Frankfurt, jetzt auch in
Leipzig.

Aber merkwürdig! Bei allen Stadttheatern folgte dem großen schönen
Neubau dieselbe Reihe absteigender Stimmungen. In den ersten Monaten ein
großer Zudrang des erfreuten Publicums, bald leere Häuser, allgemeines
Mißbehagen und die Ansicht, daß das Theater schlechter geworden sei. In
den alten engen Häusern war die Kunst auch nicht immer gut bedient wor-


blick in die verschiedensten Lebenskreise, sie schmückt mit den heiteren Farben
der Poesie die Empfindung auch des Kleinen und stellt gegen den Druck
harter Wirklichkeit eine Fülle von idealen Stimmungen, sie bildet den Aus¬
druck warmen Gefühls, die Formen geselligen Verkehrs in dem Hörer heraus;
sie erhält in der Noth und den Räthseln des Erdenlebens ein Gefühl sou-
verainer Freiheit, denn sie stellt einen vernünftigen Zusammenhang zwi¬
schen Schuld und Strafe, zwischen lächerlicher Verkehrtheit und den Fol¬
gen derselben hoch imponirend dar. Und diese ethischen Wirkungen des
Theaters sind gerade für den Menschen in engen Verhältnissen bei seltenem
Genuß die größten; sie verbinden sein Gemüthsleben ebenso innig mit den
anspruchsvolleren Kreisen der Gesellschaft, als die Zeitungen ihm seine realen
Interessen mit den Forderungen von Millionen mitlebender Menschen zu¬
sammenschließen. Diese Culturbedeutung der Bühne ist bis zu gewissem
Grade unabhängig geworden von der Energie modernen Dichterschaffens,
denn ein großer Theil unseres Repertoirs wird durch Stücke früherer
Zeit gebildet, dieser Segen wirkt auch noch da, wo eine mäßige Tüchtig¬
keit der Schauspieler dauert. Er geht freilich verloren und wandelt sich in
Unsegen, wo das Gemeine, Unschöne, Fratzenhafte den ehrlichen Kunstbe¬
trieb überwuchert.

Daß die Bühne ein wesentliches Moment unserer Cultur wurde und die
Zahl der festen Bühnen so hoch stieg, das hat der Kunst wohl und wehe
gethan; denn die breite Ausdehnung der Theater hat eine eigene umfangreiche
Theaterindustrie hervbrgerufen, Unternehmer, Agenten und geschäftliche Spe-
culationen. In allen großen Städten machte sich mit dem zunehmenden
Wohlstand und einer wachsenden Zuschauerzahl der Wunsch geltend, statt¬
liche und größere Bühnenräume zu schaffen, zumal da, wo Oper, Ballet
und Schauspiel nicht getrennt waren.

Man hatte sich lange geärgert über enge, schmucklose und sehr unbe¬
queme Häuser, welche das vorige und die ersten Jahrzehnte des gegenwärti¬
gen Jahrhunderts hinterließen; auch die Möglichkeit größerer Einnahmen
lockte, 'und nicht zuletzt die edlere Freude unserer Zeit an umfangreicher Ge¬
selligkeit und an Popularisirung alles Wahren und Schönen. So entstan¬
den die neuen Hoftheater von Dresden, München u. s. w., die großen Stadt¬
theater in Königsberg, Hamburg, Köln, Breslau, Frankfurt, jetzt auch in
Leipzig.

Aber merkwürdig! Bei allen Stadttheatern folgte dem großen schönen
Neubau dieselbe Reihe absteigender Stimmungen. In den ersten Monaten ein
großer Zudrang des erfreuten Publicums, bald leere Häuser, allgemeines
Mißbehagen und die Ansicht, daß das Theater schlechter geworden sei. In
den alten engen Häusern war die Kunst auch nicht immer gut bedient wor-


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[0414] blick in die verschiedensten Lebenskreise, sie schmückt mit den heiteren Farben der Poesie die Empfindung auch des Kleinen und stellt gegen den Druck harter Wirklichkeit eine Fülle von idealen Stimmungen, sie bildet den Aus¬ druck warmen Gefühls, die Formen geselligen Verkehrs in dem Hörer heraus; sie erhält in der Noth und den Räthseln des Erdenlebens ein Gefühl sou- verainer Freiheit, denn sie stellt einen vernünftigen Zusammenhang zwi¬ schen Schuld und Strafe, zwischen lächerlicher Verkehrtheit und den Fol¬ gen derselben hoch imponirend dar. Und diese ethischen Wirkungen des Theaters sind gerade für den Menschen in engen Verhältnissen bei seltenem Genuß die größten; sie verbinden sein Gemüthsleben ebenso innig mit den anspruchsvolleren Kreisen der Gesellschaft, als die Zeitungen ihm seine realen Interessen mit den Forderungen von Millionen mitlebender Menschen zu¬ sammenschließen. Diese Culturbedeutung der Bühne ist bis zu gewissem Grade unabhängig geworden von der Energie modernen Dichterschaffens, denn ein großer Theil unseres Repertoirs wird durch Stücke früherer Zeit gebildet, dieser Segen wirkt auch noch da, wo eine mäßige Tüchtig¬ keit der Schauspieler dauert. Er geht freilich verloren und wandelt sich in Unsegen, wo das Gemeine, Unschöne, Fratzenhafte den ehrlichen Kunstbe¬ trieb überwuchert. Daß die Bühne ein wesentliches Moment unserer Cultur wurde und die Zahl der festen Bühnen so hoch stieg, das hat der Kunst wohl und wehe gethan; denn die breite Ausdehnung der Theater hat eine eigene umfangreiche Theaterindustrie hervbrgerufen, Unternehmer, Agenten und geschäftliche Spe- culationen. In allen großen Städten machte sich mit dem zunehmenden Wohlstand und einer wachsenden Zuschauerzahl der Wunsch geltend, statt¬ liche und größere Bühnenräume zu schaffen, zumal da, wo Oper, Ballet und Schauspiel nicht getrennt waren. Man hatte sich lange geärgert über enge, schmucklose und sehr unbe¬ queme Häuser, welche das vorige und die ersten Jahrzehnte des gegenwärti¬ gen Jahrhunderts hinterließen; auch die Möglichkeit größerer Einnahmen lockte, 'und nicht zuletzt die edlere Freude unserer Zeit an umfangreicher Ge¬ selligkeit und an Popularisirung alles Wahren und Schönen. So entstan¬ den die neuen Hoftheater von Dresden, München u. s. w., die großen Stadt¬ theater in Königsberg, Hamburg, Köln, Breslau, Frankfurt, jetzt auch in Leipzig. Aber merkwürdig! Bei allen Stadttheatern folgte dem großen schönen Neubau dieselbe Reihe absteigender Stimmungen. In den ersten Monaten ein großer Zudrang des erfreuten Publicums, bald leere Häuser, allgemeines Mißbehagen und die Ansicht, daß das Theater schlechter geworden sei. In den alten engen Häusern war die Kunst auch nicht immer gut bedient wor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/414>, abgerufen am 15.01.2025.