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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Hingabe ein freiheitliche und humane Ideen ist es aber Nichts -- die blinde
Verherrlichung des Nationalitätsprincips bedeutet eher einen Rückschritt als
einen Fortschritt in der russischen Culturentwickelung.

Das ist auch die Quintessenz des Romans "Rauch". Auch in diesem
seinem letzten größeren Werk ist Turgenjew sich selbst und seiner künst¬
lerischen Methode treu geblieben. Er schildert die neueste Richtung rus¬
sischen Geisteslebens nicht nach ihren politischen Wirkungen, sondern weiß
zu berichten, wie sie auf das Gemüth des Einzelnen, auf die Entwickelung
des Individuums wirken. Außerhalb des eigentlichen Kampfes der Parteien
stehend, legt er Zeugniß davon ab, wie diese sich im Spiegel der Dichtung aus¬
nehmen, welchen ästhetischen Eindruck sie dem machen, der gesunde Men¬
schenkraft zu lieben weiß und zu schildern ersehnt.

Aus der russischen Wirklichkeit kann der russische Dichter nicht her¬
aus, nur mit dem Material, welches diese ihm bietet, kann er bauen,
nur mit den Farben, welche vorhanden sind, malen. Fehlt den Ge¬
mälden Turgenjews jene heitere Ruhe und Selbstgenügsamkeit, welche
von dem ächten Kunstwerk gefordert wird und deren Mangel beinahe allen
hervorragenden Schöpfungen der russischen schönen Literatur nachgewiesen
werden kann, so wird die Schuld davon nicht in der Begabung der Künstler,
sondern in den Verhältnissen zu suchen sein, welche dieselben umgeben und
bestimmen. Der Cultus der reinen künstlerischen Schönheit hat eine Summe
von Culturerrungenschaften zur Voraussetzung, welche in Rußland weder vor
noch nach Aufhebung der Leibeigenschaft vorhanden war. Großer und nach¬
haltiger Anstrengungen wird es bedürfen, um das gestörte oder bis jetzt über¬
haupt nicht vorhandene Gleichgewicht zwischen den politischen Aufgaben des
Staates und den humanen Aufgaben des Einzelnen wieder herzustellen und
damit die Grundlage einer gedeihlichen Existenz des Einzelnen zu ermöglichen.
So lange dieses-Ziel nicht erreicht ist, erscheint die heitere Ruhe der Sieges¬
gewißheit für den Künstler, in dessen Seele sich das russische Volksthum
spiegelt, unmöglich, und der russischen Literatur., gereicht es zur Ehre, diese
Siegesgewißheit nicht erlogen, sondern in ihren hervorragendsten Erscheinun¬
gen -- und zu diesen gehört Turgenjew -- frei bekannt zu haben, daß die
liebevolle und kunstvolle Darstellung der Schönheit'eine Stätte nur finden
kann auf dem Boden eines freien, mit sich selbst einigen gesunden Volks¬
und Staatslebens.




Grenzboten II. 1868.

Hingabe ein freiheitliche und humane Ideen ist es aber Nichts — die blinde
Verherrlichung des Nationalitätsprincips bedeutet eher einen Rückschritt als
einen Fortschritt in der russischen Culturentwickelung.

Das ist auch die Quintessenz des Romans „Rauch". Auch in diesem
seinem letzten größeren Werk ist Turgenjew sich selbst und seiner künst¬
lerischen Methode treu geblieben. Er schildert die neueste Richtung rus¬
sischen Geisteslebens nicht nach ihren politischen Wirkungen, sondern weiß
zu berichten, wie sie auf das Gemüth des Einzelnen, auf die Entwickelung
des Individuums wirken. Außerhalb des eigentlichen Kampfes der Parteien
stehend, legt er Zeugniß davon ab, wie diese sich im Spiegel der Dichtung aus¬
nehmen, welchen ästhetischen Eindruck sie dem machen, der gesunde Men¬
schenkraft zu lieben weiß und zu schildern ersehnt.

Aus der russischen Wirklichkeit kann der russische Dichter nicht her¬
aus, nur mit dem Material, welches diese ihm bietet, kann er bauen,
nur mit den Farben, welche vorhanden sind, malen. Fehlt den Ge¬
mälden Turgenjews jene heitere Ruhe und Selbstgenügsamkeit, welche
von dem ächten Kunstwerk gefordert wird und deren Mangel beinahe allen
hervorragenden Schöpfungen der russischen schönen Literatur nachgewiesen
werden kann, so wird die Schuld davon nicht in der Begabung der Künstler,
sondern in den Verhältnissen zu suchen sein, welche dieselben umgeben und
bestimmen. Der Cultus der reinen künstlerischen Schönheit hat eine Summe
von Culturerrungenschaften zur Voraussetzung, welche in Rußland weder vor
noch nach Aufhebung der Leibeigenschaft vorhanden war. Großer und nach¬
haltiger Anstrengungen wird es bedürfen, um das gestörte oder bis jetzt über¬
haupt nicht vorhandene Gleichgewicht zwischen den politischen Aufgaben des
Staates und den humanen Aufgaben des Einzelnen wieder herzustellen und
damit die Grundlage einer gedeihlichen Existenz des Einzelnen zu ermöglichen.
So lange dieses-Ziel nicht erreicht ist, erscheint die heitere Ruhe der Sieges¬
gewißheit für den Künstler, in dessen Seele sich das russische Volksthum
spiegelt, unmöglich, und der russischen Literatur., gereicht es zur Ehre, diese
Siegesgewißheit nicht erlogen, sondern in ihren hervorragendsten Erscheinun¬
gen — und zu diesen gehört Turgenjew — frei bekannt zu haben, daß die
liebevolle und kunstvolle Darstellung der Schönheit'eine Stätte nur finden
kann auf dem Boden eines freien, mit sich selbst einigen gesunden Volks¬
und Staatslebens.




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[0261] Hingabe ein freiheitliche und humane Ideen ist es aber Nichts — die blinde Verherrlichung des Nationalitätsprincips bedeutet eher einen Rückschritt als einen Fortschritt in der russischen Culturentwickelung. Das ist auch die Quintessenz des Romans „Rauch". Auch in diesem seinem letzten größeren Werk ist Turgenjew sich selbst und seiner künst¬ lerischen Methode treu geblieben. Er schildert die neueste Richtung rus¬ sischen Geisteslebens nicht nach ihren politischen Wirkungen, sondern weiß zu berichten, wie sie auf das Gemüth des Einzelnen, auf die Entwickelung des Individuums wirken. Außerhalb des eigentlichen Kampfes der Parteien stehend, legt er Zeugniß davon ab, wie diese sich im Spiegel der Dichtung aus¬ nehmen, welchen ästhetischen Eindruck sie dem machen, der gesunde Men¬ schenkraft zu lieben weiß und zu schildern ersehnt. Aus der russischen Wirklichkeit kann der russische Dichter nicht her¬ aus, nur mit dem Material, welches diese ihm bietet, kann er bauen, nur mit den Farben, welche vorhanden sind, malen. Fehlt den Ge¬ mälden Turgenjews jene heitere Ruhe und Selbstgenügsamkeit, welche von dem ächten Kunstwerk gefordert wird und deren Mangel beinahe allen hervorragenden Schöpfungen der russischen schönen Literatur nachgewiesen werden kann, so wird die Schuld davon nicht in der Begabung der Künstler, sondern in den Verhältnissen zu suchen sein, welche dieselben umgeben und bestimmen. Der Cultus der reinen künstlerischen Schönheit hat eine Summe von Culturerrungenschaften zur Voraussetzung, welche in Rußland weder vor noch nach Aufhebung der Leibeigenschaft vorhanden war. Großer und nach¬ haltiger Anstrengungen wird es bedürfen, um das gestörte oder bis jetzt über¬ haupt nicht vorhandene Gleichgewicht zwischen den politischen Aufgaben des Staates und den humanen Aufgaben des Einzelnen wieder herzustellen und damit die Grundlage einer gedeihlichen Existenz des Einzelnen zu ermöglichen. So lange dieses-Ziel nicht erreicht ist, erscheint die heitere Ruhe der Sieges¬ gewißheit für den Künstler, in dessen Seele sich das russische Volksthum spiegelt, unmöglich, und der russischen Literatur., gereicht es zur Ehre, diese Siegesgewißheit nicht erlogen, sondern in ihren hervorragendsten Erscheinun¬ gen — und zu diesen gehört Turgenjew — frei bekannt zu haben, daß die liebevolle und kunstvolle Darstellung der Schönheit'eine Stätte nur finden kann auf dem Boden eines freien, mit sich selbst einigen gesunden Volks¬ und Staatslebens. Grenzboten II. 1868.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/261>, abgerufen am 15.01.2025.