Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.dehnt sich jedes Blatt auf dem Baume, jeder Halm, im Grase .... Die Zwischen diesen und andern verwandten Schöpfungen der ersten Periode Auch unter den veränderten Verhältnissen des neuesten Rußland ist Tur¬ dehnt sich jedes Blatt auf dem Baume, jeder Halm, im Grase .... Die Zwischen diesen und andern verwandten Schöpfungen der ersten Periode Auch unter den veränderten Verhältnissen des neuesten Rußland ist Tur¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0257" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117789"/> <p xml:id="ID_814" prev="#ID_813"> dehnt sich jedes Blatt auf dem Baume, jeder Halm, im Grase .... Die<lb/> Stille umfängt mich von allen Seiten, ruhig zieht die Sonne am Himmel<lb/> dahin, ruhig schimmern am Himmel die ewigen Sterne: sie scheinen zu<lb/> wissen, warum und wohin sie schwimmen! Und in demselben Augenblick<lb/> stürmt, siedet und eilt das Leben an tausend andern Orten des Erdenballs<lb/> dahin — hier aber fließt es unhörbar, wie das Wasser, das im Sumpf zum<lb/> Stillstand gebracht wird!" Der gleiche Ton tiefbewegter Klage über die Be¬<lb/> rufs- und Heimatlosigkeit derjenigen russischen Existenzen, welche sich nicht<lb/> dem Götzendienst bureaukratischer Carriere gefangen geben wollen und durch<lb/> ihre Bildung daran verhindert sind, in das' Volk zurückzukehren, und die tiefe<lb/> Kluft, welche dieses von den-höheren Classen trennt, zu überspringen, zittert<lb/> auch durch die reizende Novelle „Faust".</p><lb/> <p xml:id="ID_815"> Zwischen diesen und andern verwandten Schöpfungen der ersten Periode<lb/> von Turgenjews poetischer Thätigkeit und desselben Dichters neueren Schriften<lb/> liegt das reformatorische Jahrzehnt, das der Beendigung des Krimkrieges<lb/> und der Thronbesteigung Alexanders II. folgte. Der Dichter, der für das<lb/> Elend seines Volks ein so seines und starkes Gefühl gehabt hatte, mußte an<lb/> dem Erwachen des russischen Volksgeistes, dem großen Werk der Aufhebung<lb/> der Leibeigenschaft und der Neugestaltung des Vaterlandes Theil nehmen, in<lb/> die Interessen, welche die Besten seines Stammes und seiner Zeit bewegten,<lb/> mit hineingezogen werden. An den Kämpfen des Tages directen Antheil zu<lb/> nehmen, war sein Beruf freilich niemals gewesen. Die Eindrücke, welche er<lb/> in der Zeit allgemeiner Unfreiheit und Lebensstockung empfangen, hatte er<lb/> wiedergegeben, wie sie als poetische Bilder in der Seele eines Dichters haften<lb/> geblieben waren — seine Schuld war es nicht gewesen, wenn über diesen<lb/> Gemälden derselbe melancholische Nebel lag, der die russische Wirklichkeit ver.<lb/> düsterte, er konnte und wollte nur wiedergeben, was er selbst empfangen.<lb/> Die politischen Wirkungen, welche er hervorbrachte, waren blos auf den Um¬<lb/> stand zurückzuführen gewesen, daß er treulich verkündet, was er gesehen und<lb/> gehört, wie ein großes Volk unter der Last einer verkehrten Organisation<lb/> zusammenbrach und in Apathie versank.</p><lb/> <p xml:id="ID_816" next="#ID_817"> Auch unter den veränderten Verhältnissen des neuesten Rußland ist Tur¬<lb/> genjew dieser Auffassung seines Dichterberufes treu geblieben. Die Veränderung<lb/> der russischen Zustände hat aber bedingt, daß der Inhalt seiner Darstellun¬<lb/> gen ein anderer geworden ist. An die Stelle der dumpfen Erstarrung, welche<lb/> über dem weiten Reich gelegen, war rüstiges Leben getreten, seit das be¬<lb/> freiende Wort des Herrschers von der Ostsee zur Wolga und zum schwarzen<lb/> Meer herüber geschalte hatte, waffenklirrend sammelten sich die Parteien, um<lb/> das Loos über die Zukunft zu werfen. Wie vorher Alle egoistischen Pri¬<lb/> vatinteressen gelebt oder thatenlos geträumt hatten, nahmen jetzt Alle an den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0257]
dehnt sich jedes Blatt auf dem Baume, jeder Halm, im Grase .... Die
Stille umfängt mich von allen Seiten, ruhig zieht die Sonne am Himmel
dahin, ruhig schimmern am Himmel die ewigen Sterne: sie scheinen zu
wissen, warum und wohin sie schwimmen! Und in demselben Augenblick
stürmt, siedet und eilt das Leben an tausend andern Orten des Erdenballs
dahin — hier aber fließt es unhörbar, wie das Wasser, das im Sumpf zum
Stillstand gebracht wird!" Der gleiche Ton tiefbewegter Klage über die Be¬
rufs- und Heimatlosigkeit derjenigen russischen Existenzen, welche sich nicht
dem Götzendienst bureaukratischer Carriere gefangen geben wollen und durch
ihre Bildung daran verhindert sind, in das' Volk zurückzukehren, und die tiefe
Kluft, welche dieses von den-höheren Classen trennt, zu überspringen, zittert
auch durch die reizende Novelle „Faust".
Zwischen diesen und andern verwandten Schöpfungen der ersten Periode
von Turgenjews poetischer Thätigkeit und desselben Dichters neueren Schriften
liegt das reformatorische Jahrzehnt, das der Beendigung des Krimkrieges
und der Thronbesteigung Alexanders II. folgte. Der Dichter, der für das
Elend seines Volks ein so seines und starkes Gefühl gehabt hatte, mußte an
dem Erwachen des russischen Volksgeistes, dem großen Werk der Aufhebung
der Leibeigenschaft und der Neugestaltung des Vaterlandes Theil nehmen, in
die Interessen, welche die Besten seines Stammes und seiner Zeit bewegten,
mit hineingezogen werden. An den Kämpfen des Tages directen Antheil zu
nehmen, war sein Beruf freilich niemals gewesen. Die Eindrücke, welche er
in der Zeit allgemeiner Unfreiheit und Lebensstockung empfangen, hatte er
wiedergegeben, wie sie als poetische Bilder in der Seele eines Dichters haften
geblieben waren — seine Schuld war es nicht gewesen, wenn über diesen
Gemälden derselbe melancholische Nebel lag, der die russische Wirklichkeit ver.
düsterte, er konnte und wollte nur wiedergeben, was er selbst empfangen.
Die politischen Wirkungen, welche er hervorbrachte, waren blos auf den Um¬
stand zurückzuführen gewesen, daß er treulich verkündet, was er gesehen und
gehört, wie ein großes Volk unter der Last einer verkehrten Organisation
zusammenbrach und in Apathie versank.
Auch unter den veränderten Verhältnissen des neuesten Rußland ist Tur¬
genjew dieser Auffassung seines Dichterberufes treu geblieben. Die Veränderung
der russischen Zustände hat aber bedingt, daß der Inhalt seiner Darstellun¬
gen ein anderer geworden ist. An die Stelle der dumpfen Erstarrung, welche
über dem weiten Reich gelegen, war rüstiges Leben getreten, seit das be¬
freiende Wort des Herrschers von der Ostsee zur Wolga und zum schwarzen
Meer herüber geschalte hatte, waffenklirrend sammelten sich die Parteien, um
das Loos über die Zukunft zu werfen. Wie vorher Alle egoistischen Pri¬
vatinteressen gelebt oder thatenlos geträumt hatten, nahmen jetzt Alle an den
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