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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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deutlich bemerkbar werden. In der Wunderscheu, die freilich in der Geschichte
Jesu bis zum Antritt des Lehramts besonders provocirt wird, erscheint der
Unterschied zwischen den beiden Bearbeitern des gleichen Lebensganges bis
jetzt nicht eben groß, in der Quellenfrage stimmen sie ohnehin im Wesent¬
lichen völlig zusammen. Und dennoch kann ein fühlbares Aber, ein sichtliches
Mißtrauen gegen Strauß nicht ganz überwunden werden. Es bleibt wie
Zittek sagt: zwischen der freien Theologie und der auf philosophischer Grundlage
ruhenden Strauß'schen Kritik ein diametraler Gegensatz vorhanden und das
vorliegende Buch wird sowohl durch das unwillkürliche Herausbrechen, als
durch das geflissentliche Aufsuchen dieses Gegensatzes interessant.

Man sollte denken, bei einem Leben Jesu, von einem Historiker wie
Herr Dr. Keim geschrieben, könne es wegen des ganz besonderen, wunder¬
haften Inhalts dieser Geschichte in den Quellen nicht ohne eine Aner¬
kennung des ersten Versuchs abgehen, ein starkes Vorwalten der Sage in
den biblischen Berichten nachzuweisen. Aber ungeachtet unser Verfasser sich
genöthigt sieht, bei den Erzählungen über Geburt, Taufe und Versuchung
Jesu stärkste Zugaben der sagenhaftenTradition anzunehmen, ist er einer all¬
gemeinen Darlegung seines Verhältnisses zu dem Inhalt der neutestament-
lichen Berichte und damit einer Anerkennung des Strauß'schen Vorgangs aus
dem Wege gegangen. Uns dünkt, er hätte, so guter nach in der Evangelien¬
frage, "dem hingegangener und jetzt erst in selner Größe erkannten Tübin¬
ger Theologen" Baur einen Denkstein bauen will, in der Frage: ob reine
Geschichte, ob untermischte Sage? auch ein Wort des Dankes für den in diesem
Punkte verdientesten Vorgänger haben können. Statt dessen sind in diesem
Buch mit derselben Hartnäckigkeit, mit der Baur zum Leidwesen von Strauß
sich die Bezeichnung seines Standpunkts als des der mythischen Erklärungs¬
weise verbittet, alle derartig anrüchige Bezeichnungen vermieden. Wo einmal
(S. 65 f.) etwcK mehr auf den Kern der Sache eingegangen wird, geschieht
solches nur. um das Strauß'sche Mythenwesen abzuweisen.. "Die Verweisung
des Wunders aus der Geschichte Jesu als eines Mythus, vielleicht auf Grund
alttestamentlicher Wundersagen sei ein Urtheilsspruch vor der Untersuchung,
ein Zeitvorurtheil statt des Geschichtsurtheils, verboten durch die thatsächliche
Größe Jesu, welche auch über das Maß der Zeit und der Zeiten gehe, durch
die Unmeßbarkeit der Grenzen von Seele und Leib, von Geist und Natur,
von Gott und Schöpfung. Nur Sagen seien je und je (auch in den ziemlich
sicheren Matthäus) eingedrungen." Sonst ist, wie S. 357, im Einklang hier¬
mit von Strauß'schen Nivellirungskünsten bei der Größe Jesu die Rede. Als
ob es sich hier nur von Wunderthaten Jesu handelte, und nicht vielmehr vor
Allem von Wundern in Bezug auf Jesus und an Jesus, bei denen es darauf
ankommt, ob ihnen der Herr Verfasser nicht das gleiche Zeitvorurtheil des Un-


deutlich bemerkbar werden. In der Wunderscheu, die freilich in der Geschichte
Jesu bis zum Antritt des Lehramts besonders provocirt wird, erscheint der
Unterschied zwischen den beiden Bearbeitern des gleichen Lebensganges bis
jetzt nicht eben groß, in der Quellenfrage stimmen sie ohnehin im Wesent¬
lichen völlig zusammen. Und dennoch kann ein fühlbares Aber, ein sichtliches
Mißtrauen gegen Strauß nicht ganz überwunden werden. Es bleibt wie
Zittek sagt: zwischen der freien Theologie und der auf philosophischer Grundlage
ruhenden Strauß'schen Kritik ein diametraler Gegensatz vorhanden und das
vorliegende Buch wird sowohl durch das unwillkürliche Herausbrechen, als
durch das geflissentliche Aufsuchen dieses Gegensatzes interessant.

Man sollte denken, bei einem Leben Jesu, von einem Historiker wie
Herr Dr. Keim geschrieben, könne es wegen des ganz besonderen, wunder¬
haften Inhalts dieser Geschichte in den Quellen nicht ohne eine Aner¬
kennung des ersten Versuchs abgehen, ein starkes Vorwalten der Sage in
den biblischen Berichten nachzuweisen. Aber ungeachtet unser Verfasser sich
genöthigt sieht, bei den Erzählungen über Geburt, Taufe und Versuchung
Jesu stärkste Zugaben der sagenhaftenTradition anzunehmen, ist er einer all¬
gemeinen Darlegung seines Verhältnisses zu dem Inhalt der neutestament-
lichen Berichte und damit einer Anerkennung des Strauß'schen Vorgangs aus
dem Wege gegangen. Uns dünkt, er hätte, so guter nach in der Evangelien¬
frage, „dem hingegangener und jetzt erst in selner Größe erkannten Tübin¬
ger Theologen" Baur einen Denkstein bauen will, in der Frage: ob reine
Geschichte, ob untermischte Sage? auch ein Wort des Dankes für den in diesem
Punkte verdientesten Vorgänger haben können. Statt dessen sind in diesem
Buch mit derselben Hartnäckigkeit, mit der Baur zum Leidwesen von Strauß
sich die Bezeichnung seines Standpunkts als des der mythischen Erklärungs¬
weise verbittet, alle derartig anrüchige Bezeichnungen vermieden. Wo einmal
(S. 65 f.) etwcK mehr auf den Kern der Sache eingegangen wird, geschieht
solches nur. um das Strauß'sche Mythenwesen abzuweisen.. „Die Verweisung
des Wunders aus der Geschichte Jesu als eines Mythus, vielleicht auf Grund
alttestamentlicher Wundersagen sei ein Urtheilsspruch vor der Untersuchung,
ein Zeitvorurtheil statt des Geschichtsurtheils, verboten durch die thatsächliche
Größe Jesu, welche auch über das Maß der Zeit und der Zeiten gehe, durch
die Unmeßbarkeit der Grenzen von Seele und Leib, von Geist und Natur,
von Gott und Schöpfung. Nur Sagen seien je und je (auch in den ziemlich
sicheren Matthäus) eingedrungen." Sonst ist, wie S. 357, im Einklang hier¬
mit von Strauß'schen Nivellirungskünsten bei der Größe Jesu die Rede. Als
ob es sich hier nur von Wunderthaten Jesu handelte, und nicht vielmehr vor
Allem von Wundern in Bezug auf Jesus und an Jesus, bei denen es darauf
ankommt, ob ihnen der Herr Verfasser nicht das gleiche Zeitvorurtheil des Un-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/216>, abgerufen am 15.01.2025.