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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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die Wirkung derselben in manchen Punkten alterirt, so ist doch hier eine
ungleich größere Annäherung an das Original vorhanden, die Vorstellung
von demselben wird bestimmter und concreter. Wenn nun aber durch die
oftmalige Wiederholung derselben Figur die Vermuthung erregt wird, sie
sei die Copie eines berühmten Originals, welche Hilfsmittel hat man, um
wahrscheinlich oder überzeugend zu machen, daß sie die Copie eines bestimmten,
uns dem Namen nach bekannten Meisterwerks ist?

Ein seltener Glücksfall ist es, wenn sich bei alten Schriftstellern eine so
genaue Beschreibung oder so treffende Bezeichnung charakteristischer Züge
findet, daß man sie nur mit dem erhaltenen Werk zusammenzuhalten braucht,
um die Identität zu constatiren. Den berühmten Discuswerfer des
Myron, den Quintilian als eine sorgsam ausgearbeitete, wie verrenkte Ge¬
stalt bezeichnet, beschreibt Lucian, ein feiner Kunstkenner, gewiß nach einer
Copie im Hause eines Privatmannes, als einen Discusspieler, der sich wie
im Moment des Abwerfens bückt und gegen die Hand hindreht, die den
Discus hält, indem er mit dem linken Fuße leicht einknickt, als müsse er
sofort nach dem Wurfe sich wieder gerade aufrichten. Als nun im Jahre
1781 in der dem Principe Massimi gehörigen Villa Palombara ein wun¬
derbar erhaltener, so gut wie ganz unversehrter Discuswerfer von Marmor
ausgegraben wurde, da konnte freilich kein Zweifel sein, daß man eine Copie
des Myronischen vor sich hatte. Der Moment der höchsten Anspannung aller
Kräfte zum Fortschleudern ist mit unglaublicher Kühnheit und Meisterschaft
ergriffen. Alle Glieder sind so nach entgegengesetzten Seiten auseinander
gezogen, daß Quintilians Bezeichnung "verrenkt" durchaus passend erscheint;
die von Lucian hervorgehobenen Motive fallen sogleich ins Auge, die zum
Abwerfen in Schwung gesetzte Hand, das gewaltsame Herumwerfen des
Körpers nach der rechten Seite, sodaß der Kopf ganz nach hinten gewendet
ist, das Einknicken des linken Fußes, der auf den umgebogenen Zehen zu
schweben scheint: während man noch hinsieht, muß der Discus fortsausen und
im selbigen Moment die ganze Gestalt in ihre naturgemäße Haltung zurück¬
schnellen. Alsbald fand sich nun auch eine ganze Reihe von Wiederholungen,
die verstümmelt auf uns gekommen und falsch ergänzt waren -- kein Restau¬
rator hatte eine so kühne Conception nachzuerfinden vermocht--, sodaß auch
dies Kriterium nicht fehlte. Genauere Prüfung ergab noch das deutliche
Hervortreten mancher Eigenthümlichkeiten, welche als charakteristische Züge
des Myronischen Stils überliefert sind, hier war ein bedeutsames Werk für
die Kunstgeschichte mit völliger Sicherheit wiedergewonnen.

Ebensowenig hat man gezweifelt, daß die in Bronze und Marmor mehr¬
fach wiederholte anmuthige Statue, welche einen mit dem linken Arm auf
einen Baum bequem sich stützenden Knaben darstellt, wie er mit gezücktem


die Wirkung derselben in manchen Punkten alterirt, so ist doch hier eine
ungleich größere Annäherung an das Original vorhanden, die Vorstellung
von demselben wird bestimmter und concreter. Wenn nun aber durch die
oftmalige Wiederholung derselben Figur die Vermuthung erregt wird, sie
sei die Copie eines berühmten Originals, welche Hilfsmittel hat man, um
wahrscheinlich oder überzeugend zu machen, daß sie die Copie eines bestimmten,
uns dem Namen nach bekannten Meisterwerks ist?

Ein seltener Glücksfall ist es, wenn sich bei alten Schriftstellern eine so
genaue Beschreibung oder so treffende Bezeichnung charakteristischer Züge
findet, daß man sie nur mit dem erhaltenen Werk zusammenzuhalten braucht,
um die Identität zu constatiren. Den berühmten Discuswerfer des
Myron, den Quintilian als eine sorgsam ausgearbeitete, wie verrenkte Ge¬
stalt bezeichnet, beschreibt Lucian, ein feiner Kunstkenner, gewiß nach einer
Copie im Hause eines Privatmannes, als einen Discusspieler, der sich wie
im Moment des Abwerfens bückt und gegen die Hand hindreht, die den
Discus hält, indem er mit dem linken Fuße leicht einknickt, als müsse er
sofort nach dem Wurfe sich wieder gerade aufrichten. Als nun im Jahre
1781 in der dem Principe Massimi gehörigen Villa Palombara ein wun¬
derbar erhaltener, so gut wie ganz unversehrter Discuswerfer von Marmor
ausgegraben wurde, da konnte freilich kein Zweifel sein, daß man eine Copie
des Myronischen vor sich hatte. Der Moment der höchsten Anspannung aller
Kräfte zum Fortschleudern ist mit unglaublicher Kühnheit und Meisterschaft
ergriffen. Alle Glieder sind so nach entgegengesetzten Seiten auseinander
gezogen, daß Quintilians Bezeichnung „verrenkt" durchaus passend erscheint;
die von Lucian hervorgehobenen Motive fallen sogleich ins Auge, die zum
Abwerfen in Schwung gesetzte Hand, das gewaltsame Herumwerfen des
Körpers nach der rechten Seite, sodaß der Kopf ganz nach hinten gewendet
ist, das Einknicken des linken Fußes, der auf den umgebogenen Zehen zu
schweben scheint: während man noch hinsieht, muß der Discus fortsausen und
im selbigen Moment die ganze Gestalt in ihre naturgemäße Haltung zurück¬
schnellen. Alsbald fand sich nun auch eine ganze Reihe von Wiederholungen,
die verstümmelt auf uns gekommen und falsch ergänzt waren — kein Restau¬
rator hatte eine so kühne Conception nachzuerfinden vermocht—, sodaß auch
dies Kriterium nicht fehlte. Genauere Prüfung ergab noch das deutliche
Hervortreten mancher Eigenthümlichkeiten, welche als charakteristische Züge
des Myronischen Stils überliefert sind, hier war ein bedeutsames Werk für
die Kunstgeschichte mit völliger Sicherheit wiedergewonnen.

Ebensowenig hat man gezweifelt, daß die in Bronze und Marmor mehr¬
fach wiederholte anmuthige Statue, welche einen mit dem linken Arm auf
einen Baum bequem sich stützenden Knaben darstellt, wie er mit gezücktem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/102>, abgerufen am 15.01.2025.