Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Feldjägers gab man uns einen Assessor des Kurgan'schen Kreisgerichts, I, M.
Gerasfimow mit, statt der PostPferde spannte man Bauerschießpferde vor.
Vor unserer Abreise aus Tobolsk wurden wir zum Civilgouverneur geführt,
der uns höflich empfing und sich freundlich erkundigte, wie unsere Gesundheit
die Einsperrung in der Festung und die weite Reise ertragen habe? Dann
verbeugte er sich und sagte unserem Begleiter: "Das sind Ihre Arrestanten;
Sie werden aber nicht vergessen, daß Sie es mit Gentlemen (wörtlich:
wohlgeborenen Leuten) zu thun haben."

Jetzt reisten wir auf der großen Hauptstraße, die quer durch ganz Sibi¬
rien führt; Alles war auf zu transportirende Verbrecher eingerichtet, jede
Station zugleich ein Etappenort. Die Gegend südlich von dieser großen
Straße ist die bevölkertste des ganzen Landes: immerhin ist die Bevölke¬
rung so schwach, daß Städte immer nur auf je 100--400 Werst vorkommen. In
Tara'konnten wir die Gastfreundlichkeit des Polizeimeisters Stepanow, eines
kaukasischen Kriegers aus Jermolow's Zeiten, nicht benutzen, weil wir diese
Stadt Nachts passirten. Gefährten, denen wir später begegneten, wußten
den Edelmuth dieses Mannes nicht genug zu preisen, der wegen seiner Hu¬
manität später zur Verantwortung gezogen wurde, übrigens kurz erwiderte, er
sei einfach den Vorschriften der christlichen Liebe gefolgt. -- Die Schießpferde
wurden in den Höfen der Gemeindegerichtshäuser gewechselt, wo wir zu¬
weilen Gemeindeberathungen antrafen und uns nicht selten über den ein¬
fachen raschen Gang der Communalangelegenheiten und den gesunden Sinn
der russischen Bauern freuten. Die Nächte brachten wir in reinlichen Bauer¬
häusern zu, wo die Eigenthümer uns treuherzig aufnahmen und jede Zah¬
lung ablehnten. -- Ueber Sibirien und dessen Bewohner werde ich bei Ge¬
legenheit meiner Rückreise ausführlicher berichten, da diese im Sommer er¬
folgte und ich im Winter keine Möglichkeit hatte, Land und Leute auf der
raschen Reise kennen zu lernen. Hier will ich nur noch kurz des Wohlthä-
tigkeitssinnes der Sibirier erwähnen: an gewissen Tagen und an bestimmten
Orten sahen wir eine Menge Bauern, die am Wege unter freiem Himmel
bei großer Kälte dastanden. Es war Gebrauch, daß die Bewohner der an
der großen Straße liegenden Dörfer sich versammelten, um die Züge der
"Unglücklichen" (so werden die Verbannten und Verwichenen in Sibirien
genannt) zu erwarten und denselben Eßwaaren, warme Strümpfe u. f. w.
zu verkaufen. Die Aermeren erhielten diese Dinge regelmäßig geschenkt.
Das geschieht zwei Mal wöchentlich an den Tagen, wo die Verurtheilten
von Etappe zu Etappe geführt werden, und die Bewohner der Dörfer lösen
sich dabei nach einem bestimmten Turnus ab. Ich'erfuhr, daß dieser christ¬
liche Gebrauch schon seit alter Zeit bestehe. -- Ueberall. von Tobolsk bis
Tschita. nahm man uns liebreich auf; auf unsere offenen Schlitten wurden


33*

Feldjägers gab man uns einen Assessor des Kurgan'schen Kreisgerichts, I, M.
Gerasfimow mit, statt der PostPferde spannte man Bauerschießpferde vor.
Vor unserer Abreise aus Tobolsk wurden wir zum Civilgouverneur geführt,
der uns höflich empfing und sich freundlich erkundigte, wie unsere Gesundheit
die Einsperrung in der Festung und die weite Reise ertragen habe? Dann
verbeugte er sich und sagte unserem Begleiter: „Das sind Ihre Arrestanten;
Sie werden aber nicht vergessen, daß Sie es mit Gentlemen (wörtlich:
wohlgeborenen Leuten) zu thun haben."

Jetzt reisten wir auf der großen Hauptstraße, die quer durch ganz Sibi¬
rien führt; Alles war auf zu transportirende Verbrecher eingerichtet, jede
Station zugleich ein Etappenort. Die Gegend südlich von dieser großen
Straße ist die bevölkertste des ganzen Landes: immerhin ist die Bevölke¬
rung so schwach, daß Städte immer nur auf je 100—400 Werst vorkommen. In
Tara'konnten wir die Gastfreundlichkeit des Polizeimeisters Stepanow, eines
kaukasischen Kriegers aus Jermolow's Zeiten, nicht benutzen, weil wir diese
Stadt Nachts passirten. Gefährten, denen wir später begegneten, wußten
den Edelmuth dieses Mannes nicht genug zu preisen, der wegen seiner Hu¬
manität später zur Verantwortung gezogen wurde, übrigens kurz erwiderte, er
sei einfach den Vorschriften der christlichen Liebe gefolgt. — Die Schießpferde
wurden in den Höfen der Gemeindegerichtshäuser gewechselt, wo wir zu¬
weilen Gemeindeberathungen antrafen und uns nicht selten über den ein¬
fachen raschen Gang der Communalangelegenheiten und den gesunden Sinn
der russischen Bauern freuten. Die Nächte brachten wir in reinlichen Bauer¬
häusern zu, wo die Eigenthümer uns treuherzig aufnahmen und jede Zah¬
lung ablehnten. — Ueber Sibirien und dessen Bewohner werde ich bei Ge¬
legenheit meiner Rückreise ausführlicher berichten, da diese im Sommer er¬
folgte und ich im Winter keine Möglichkeit hatte, Land und Leute auf der
raschen Reise kennen zu lernen. Hier will ich nur noch kurz des Wohlthä-
tigkeitssinnes der Sibirier erwähnen: an gewissen Tagen und an bestimmten
Orten sahen wir eine Menge Bauern, die am Wege unter freiem Himmel
bei großer Kälte dastanden. Es war Gebrauch, daß die Bewohner der an
der großen Straße liegenden Dörfer sich versammelten, um die Züge der
»Unglücklichen" (so werden die Verbannten und Verwichenen in Sibirien
genannt) zu erwarten und denselben Eßwaaren, warme Strümpfe u. f. w.
zu verkaufen. Die Aermeren erhielten diese Dinge regelmäßig geschenkt.
Das geschieht zwei Mal wöchentlich an den Tagen, wo die Verurtheilten
von Etappe zu Etappe geführt werden, und die Bewohner der Dörfer lösen
sich dabei nach einem bestimmten Turnus ab. Ich'erfuhr, daß dieser christ¬
liche Gebrauch schon seit alter Zeit bestehe. — Ueberall. von Tobolsk bis
Tschita. nahm man uns liebreich auf; auf unsere offenen Schlitten wurden


33*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0281" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287553"/>
            <p xml:id="ID_740" prev="#ID_739"> Feldjägers gab man uns einen Assessor des Kurgan'schen Kreisgerichts, I, M.<lb/>
Gerasfimow mit, statt der PostPferde spannte man Bauerschießpferde vor.<lb/>
Vor unserer Abreise aus Tobolsk wurden wir zum Civilgouverneur geführt,<lb/>
der uns höflich empfing und sich freundlich erkundigte, wie unsere Gesundheit<lb/>
die Einsperrung in der Festung und die weite Reise ertragen habe? Dann<lb/>
verbeugte er sich und sagte unserem Begleiter: &#x201E;Das sind Ihre Arrestanten;<lb/>
Sie werden aber nicht vergessen, daß Sie es mit Gentlemen (wörtlich:<lb/>
wohlgeborenen Leuten) zu thun haben."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_741" next="#ID_742"> Jetzt reisten wir auf der großen Hauptstraße, die quer durch ganz Sibi¬<lb/>
rien führt; Alles war auf zu transportirende Verbrecher eingerichtet, jede<lb/>
Station zugleich ein Etappenort. Die Gegend südlich von dieser großen<lb/>
Straße ist die bevölkertste des ganzen Landes: immerhin ist die Bevölke¬<lb/>
rung so schwach, daß Städte immer nur auf je 100&#x2014;400 Werst vorkommen. In<lb/>
Tara'konnten wir die Gastfreundlichkeit des Polizeimeisters Stepanow, eines<lb/>
kaukasischen Kriegers aus Jermolow's Zeiten, nicht benutzen, weil wir diese<lb/>
Stadt Nachts passirten. Gefährten, denen wir später begegneten, wußten<lb/>
den Edelmuth dieses Mannes nicht genug zu preisen, der wegen seiner Hu¬<lb/>
manität später zur Verantwortung gezogen wurde, übrigens kurz erwiderte, er<lb/>
sei einfach den Vorschriften der christlichen Liebe gefolgt. &#x2014; Die Schießpferde<lb/>
wurden in den Höfen der Gemeindegerichtshäuser gewechselt, wo wir zu¬<lb/>
weilen Gemeindeberathungen antrafen und uns nicht selten über den ein¬<lb/>
fachen raschen Gang der Communalangelegenheiten und den gesunden Sinn<lb/>
der russischen Bauern freuten. Die Nächte brachten wir in reinlichen Bauer¬<lb/>
häusern zu, wo die Eigenthümer uns treuherzig aufnahmen und jede Zah¬<lb/>
lung ablehnten. &#x2014; Ueber Sibirien und dessen Bewohner werde ich bei Ge¬<lb/>
legenheit meiner Rückreise ausführlicher berichten, da diese im Sommer er¬<lb/>
folgte und ich im Winter keine Möglichkeit hatte, Land und Leute auf der<lb/>
raschen Reise kennen zu lernen. Hier will ich nur noch kurz des Wohlthä-<lb/>
tigkeitssinnes der Sibirier erwähnen: an gewissen Tagen und an bestimmten<lb/>
Orten sahen wir eine Menge Bauern, die am Wege unter freiem Himmel<lb/>
bei großer Kälte dastanden. Es war Gebrauch, daß die Bewohner der an<lb/>
der großen Straße liegenden Dörfer sich versammelten, um die Züge der<lb/>
»Unglücklichen" (so werden die Verbannten und Verwichenen in Sibirien<lb/>
genannt) zu erwarten und denselben Eßwaaren, warme Strümpfe u. f. w.<lb/>
zu verkaufen. Die Aermeren erhielten diese Dinge regelmäßig geschenkt.<lb/>
Das geschieht zwei Mal wöchentlich an den Tagen, wo die Verurtheilten<lb/>
von Etappe zu Etappe geführt werden, und die Bewohner der Dörfer lösen<lb/>
sich dabei nach einem bestimmten Turnus ab. Ich'erfuhr, daß dieser christ¬<lb/>
liche Gebrauch schon seit alter Zeit bestehe. &#x2014; Ueberall. von Tobolsk bis<lb/>
Tschita. nahm man uns liebreich auf; auf unsere offenen Schlitten wurden</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 33*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0281] Feldjägers gab man uns einen Assessor des Kurgan'schen Kreisgerichts, I, M. Gerasfimow mit, statt der PostPferde spannte man Bauerschießpferde vor. Vor unserer Abreise aus Tobolsk wurden wir zum Civilgouverneur geführt, der uns höflich empfing und sich freundlich erkundigte, wie unsere Gesundheit die Einsperrung in der Festung und die weite Reise ertragen habe? Dann verbeugte er sich und sagte unserem Begleiter: „Das sind Ihre Arrestanten; Sie werden aber nicht vergessen, daß Sie es mit Gentlemen (wörtlich: wohlgeborenen Leuten) zu thun haben." Jetzt reisten wir auf der großen Hauptstraße, die quer durch ganz Sibi¬ rien führt; Alles war auf zu transportirende Verbrecher eingerichtet, jede Station zugleich ein Etappenort. Die Gegend südlich von dieser großen Straße ist die bevölkertste des ganzen Landes: immerhin ist die Bevölke¬ rung so schwach, daß Städte immer nur auf je 100—400 Werst vorkommen. In Tara'konnten wir die Gastfreundlichkeit des Polizeimeisters Stepanow, eines kaukasischen Kriegers aus Jermolow's Zeiten, nicht benutzen, weil wir diese Stadt Nachts passirten. Gefährten, denen wir später begegneten, wußten den Edelmuth dieses Mannes nicht genug zu preisen, der wegen seiner Hu¬ manität später zur Verantwortung gezogen wurde, übrigens kurz erwiderte, er sei einfach den Vorschriften der christlichen Liebe gefolgt. — Die Schießpferde wurden in den Höfen der Gemeindegerichtshäuser gewechselt, wo wir zu¬ weilen Gemeindeberathungen antrafen und uns nicht selten über den ein¬ fachen raschen Gang der Communalangelegenheiten und den gesunden Sinn der russischen Bauern freuten. Die Nächte brachten wir in reinlichen Bauer¬ häusern zu, wo die Eigenthümer uns treuherzig aufnahmen und jede Zah¬ lung ablehnten. — Ueber Sibirien und dessen Bewohner werde ich bei Ge¬ legenheit meiner Rückreise ausführlicher berichten, da diese im Sommer er¬ folgte und ich im Winter keine Möglichkeit hatte, Land und Leute auf der raschen Reise kennen zu lernen. Hier will ich nur noch kurz des Wohlthä- tigkeitssinnes der Sibirier erwähnen: an gewissen Tagen und an bestimmten Orten sahen wir eine Menge Bauern, die am Wege unter freiem Himmel bei großer Kälte dastanden. Es war Gebrauch, daß die Bewohner der an der großen Straße liegenden Dörfer sich versammelten, um die Züge der »Unglücklichen" (so werden die Verbannten und Verwichenen in Sibirien genannt) zu erwarten und denselben Eßwaaren, warme Strümpfe u. f. w. zu verkaufen. Die Aermeren erhielten diese Dinge regelmäßig geschenkt. Das geschieht zwei Mal wöchentlich an den Tagen, wo die Verurtheilten von Etappe zu Etappe geführt werden, und die Bewohner der Dörfer lösen sich dabei nach einem bestimmten Turnus ab. Ich'erfuhr, daß dieser christ¬ liche Gebrauch schon seit alter Zeit bestehe. — Ueberall. von Tobolsk bis Tschita. nahm man uns liebreich auf; auf unsere offenen Schlitten wurden 33*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/281
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/281>, abgerufen am 06.02.2025.