Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dem zerstörenden Einfluß der unreinen und feuchten Gefängnißluft; ich litt
an Skorbut, mein Zahnfleisch war geschwollen und ganz weiß. -- Eine
dritte sehr wichtige Erleichterung bestand in der Erlaubniß Bücher zu er¬
halten. Mit großem Vergnügen las ich alle Romane von Walter Scott;
die Stunden vergingen so schnell, daß ich oft des Geläute der Festungsuhr
gar nicht hörte. Durch Sokolow theilte ich meine Bücher mit einem Mit¬
gefangenen. In einem Tage verschlang ich zuweilen vier Bände und befand
mich in diesen Stunden nicht'in der Festung, sondern im Schlosse Kenilworth,
im Kloster, in einem schottischen Wirthshause, in den Palästen Ludwigs XI.,
Eduard's und Elisabeth's. Am Abende freute ich mich auf den kommenden
Morgen, um ein neues Buch vorzunehmen. Die stete Erwartung einer bal¬
digen Abfertigung nach Sibirien erlaubte nur diese leichte Lectüre; ernsthafte
und wissenschaftliche Bücher vorzunehmen, wäre mir zu jener Zeit unmöglich ge¬
wesen. Ich wünschte Schriften über Sibirien, aber damals war noch wenig
über das Land geschrieben worden. Außer den Reisebeschreibungen von Pallas,
Martynow, Markus und einigen Personen, die mit einer Mission über
Kiächta nach China gereist, waren schriftliche Nachrichten nicht zu haben und
die meisten dieser Nachrichten waren, wie sich in der Folge zeigte, un¬
vollständig und voller Fehler. -- Diejenigen meiner Mitgefangenen, welche
in Petersburg keine Verwandte hatten, erhielten Bücher aus der Festungs¬
bibliothek: die Reisen Cook's, die Geschichte des Abbe' Leporte und alte
russische Zeitungen. Ein Kamerad übersandte mir einst ein Zeitungsblatt von
177L, das einen Artikel über Nordamerika enthielt, in welchem beständig von
dem schändlichen Rebellen General Washington die Rede war.

Eine Woche nach Vollziehung des Urtheils erhielt ein Verwandter und
Dienstkamerad Erlaubniß mich zu sehen und Abschied von mir zu nehmen.
Das Wiedersehen fand in der Commandantenwohnung in Gegenwart eines
Platzadjutanten statt. Am 25. Juli erhielt meine Frau die Erlaubniß mich
weinen neugeborenen Sohn in der Commandantur sehen zu lassen. Obgleich in
Thränen, war meine Frau gefaßt und standhaft; sie erkundigte sich nach
der Zeit und dem Orte unserer Wiedervereinigung. Mein Sohn, sechs
Wochen alt, lag auf dem Divan des Commandanten, er schien uns durch
das Lächeln seines Mundes und seine blauen Augen trösten zu wollen. Ich
dat meine Frau, mir nicht sogleich nach Sibirien zu folgen, sondern erst.
Wenn mein Sohn gehen könne und ich ihr über meinen neuen Aufenthaltsort
Nachricht gegeben. Sie segnete mich mit einem Muttergottesbilde, ich be-
werkte, daß auf der Kehrseite desselben etwas angeklebt sei; es waren tausend
Rubel in Banknoten. -- Ich wies die Summe zurück, Geld war mir unnütz;
ich bat dagegen mir einen breiten Mantel aus grauem Tuch nähen und mit
Wachstuch füttern zu lassen. Dieses Kleidungsstück war mir später von


32 ^

dem zerstörenden Einfluß der unreinen und feuchten Gefängnißluft; ich litt
an Skorbut, mein Zahnfleisch war geschwollen und ganz weiß. — Eine
dritte sehr wichtige Erleichterung bestand in der Erlaubniß Bücher zu er¬
halten. Mit großem Vergnügen las ich alle Romane von Walter Scott;
die Stunden vergingen so schnell, daß ich oft des Geläute der Festungsuhr
gar nicht hörte. Durch Sokolow theilte ich meine Bücher mit einem Mit¬
gefangenen. In einem Tage verschlang ich zuweilen vier Bände und befand
mich in diesen Stunden nicht'in der Festung, sondern im Schlosse Kenilworth,
im Kloster, in einem schottischen Wirthshause, in den Palästen Ludwigs XI.,
Eduard's und Elisabeth's. Am Abende freute ich mich auf den kommenden
Morgen, um ein neues Buch vorzunehmen. Die stete Erwartung einer bal¬
digen Abfertigung nach Sibirien erlaubte nur diese leichte Lectüre; ernsthafte
und wissenschaftliche Bücher vorzunehmen, wäre mir zu jener Zeit unmöglich ge¬
wesen. Ich wünschte Schriften über Sibirien, aber damals war noch wenig
über das Land geschrieben worden. Außer den Reisebeschreibungen von Pallas,
Martynow, Markus und einigen Personen, die mit einer Mission über
Kiächta nach China gereist, waren schriftliche Nachrichten nicht zu haben und
die meisten dieser Nachrichten waren, wie sich in der Folge zeigte, un¬
vollständig und voller Fehler. — Diejenigen meiner Mitgefangenen, welche
in Petersburg keine Verwandte hatten, erhielten Bücher aus der Festungs¬
bibliothek: die Reisen Cook's, die Geschichte des Abbe' Leporte und alte
russische Zeitungen. Ein Kamerad übersandte mir einst ein Zeitungsblatt von
177L, das einen Artikel über Nordamerika enthielt, in welchem beständig von
dem schändlichen Rebellen General Washington die Rede war.

Eine Woche nach Vollziehung des Urtheils erhielt ein Verwandter und
Dienstkamerad Erlaubniß mich zu sehen und Abschied von mir zu nehmen.
Das Wiedersehen fand in der Commandantenwohnung in Gegenwart eines
Platzadjutanten statt. Am 25. Juli erhielt meine Frau die Erlaubniß mich
weinen neugeborenen Sohn in der Commandantur sehen zu lassen. Obgleich in
Thränen, war meine Frau gefaßt und standhaft; sie erkundigte sich nach
der Zeit und dem Orte unserer Wiedervereinigung. Mein Sohn, sechs
Wochen alt, lag auf dem Divan des Commandanten, er schien uns durch
das Lächeln seines Mundes und seine blauen Augen trösten zu wollen. Ich
dat meine Frau, mir nicht sogleich nach Sibirien zu folgen, sondern erst.
Wenn mein Sohn gehen könne und ich ihr über meinen neuen Aufenthaltsort
Nachricht gegeben. Sie segnete mich mit einem Muttergottesbilde, ich be-
werkte, daß auf der Kehrseite desselben etwas angeklebt sei; es waren tausend
Rubel in Banknoten. — Ich wies die Summe zurück, Geld war mir unnütz;
ich bat dagegen mir einen breiten Mantel aus grauem Tuch nähen und mit
Wachstuch füttern zu lassen. Dieses Kleidungsstück war mir später von


32 ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0273" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287545"/>
            <p xml:id="ID_722" prev="#ID_721"> dem zerstörenden Einfluß der unreinen und feuchten Gefängnißluft; ich litt<lb/>
an Skorbut, mein Zahnfleisch war geschwollen und ganz weiß. &#x2014; Eine<lb/>
dritte sehr wichtige Erleichterung bestand in der Erlaubniß Bücher zu er¬<lb/>
halten. Mit großem Vergnügen las ich alle Romane von Walter Scott;<lb/>
die Stunden vergingen so schnell, daß ich oft des Geläute der Festungsuhr<lb/>
gar nicht hörte. Durch Sokolow theilte ich meine Bücher mit einem Mit¬<lb/>
gefangenen. In einem Tage verschlang ich zuweilen vier Bände und befand<lb/>
mich in diesen Stunden nicht'in der Festung, sondern im Schlosse Kenilworth,<lb/>
im Kloster, in einem schottischen Wirthshause, in den Palästen Ludwigs XI.,<lb/>
Eduard's und Elisabeth's. Am Abende freute ich mich auf den kommenden<lb/>
Morgen, um ein neues Buch vorzunehmen. Die stete Erwartung einer bal¬<lb/>
digen Abfertigung nach Sibirien erlaubte nur diese leichte Lectüre; ernsthafte<lb/>
und wissenschaftliche Bücher vorzunehmen, wäre mir zu jener Zeit unmöglich ge¬<lb/>
wesen. Ich wünschte Schriften über Sibirien, aber damals war noch wenig<lb/>
über das Land geschrieben worden. Außer den Reisebeschreibungen von Pallas,<lb/>
Martynow, Markus und einigen Personen, die mit einer Mission über<lb/>
Kiächta nach China gereist, waren schriftliche Nachrichten nicht zu haben und<lb/>
die meisten dieser Nachrichten waren, wie sich in der Folge zeigte, un¬<lb/>
vollständig und voller Fehler. &#x2014; Diejenigen meiner Mitgefangenen, welche<lb/>
in Petersburg keine Verwandte hatten, erhielten Bücher aus der Festungs¬<lb/>
bibliothek: die Reisen Cook's, die Geschichte des Abbe' Leporte und alte<lb/>
russische Zeitungen. Ein Kamerad übersandte mir einst ein Zeitungsblatt von<lb/>
177L, das einen Artikel über Nordamerika enthielt, in welchem beständig von<lb/>
dem schändlichen Rebellen General Washington die Rede war.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_723" next="#ID_724"> Eine Woche nach Vollziehung des Urtheils erhielt ein Verwandter und<lb/>
Dienstkamerad Erlaubniß mich zu sehen und Abschied von mir zu nehmen.<lb/>
Das Wiedersehen fand in der Commandantenwohnung in Gegenwart eines<lb/>
Platzadjutanten statt. Am 25. Juli erhielt meine Frau die Erlaubniß mich<lb/>
weinen neugeborenen Sohn in der Commandantur sehen zu lassen. Obgleich in<lb/>
Thränen, war meine Frau gefaßt und standhaft; sie erkundigte sich nach<lb/>
der Zeit und dem Orte unserer Wiedervereinigung. Mein Sohn, sechs<lb/>
Wochen alt, lag auf dem Divan des Commandanten, er schien uns durch<lb/>
das Lächeln seines Mundes und seine blauen Augen trösten zu wollen. Ich<lb/>
dat meine Frau, mir nicht sogleich nach Sibirien zu folgen, sondern erst.<lb/>
Wenn mein Sohn gehen könne und ich ihr über meinen neuen Aufenthaltsort<lb/>
Nachricht gegeben. Sie segnete mich mit einem Muttergottesbilde, ich be-<lb/>
werkte, daß auf der Kehrseite desselben etwas angeklebt sei; es waren tausend<lb/>
Rubel in Banknoten. &#x2014; Ich wies die Summe zurück, Geld war mir unnütz;<lb/>
ich bat dagegen mir einen breiten Mantel aus grauem Tuch nähen und mit<lb/>
Wachstuch füttern zu lassen. Dieses Kleidungsstück war mir später von</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 32 ^</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0273] dem zerstörenden Einfluß der unreinen und feuchten Gefängnißluft; ich litt an Skorbut, mein Zahnfleisch war geschwollen und ganz weiß. — Eine dritte sehr wichtige Erleichterung bestand in der Erlaubniß Bücher zu er¬ halten. Mit großem Vergnügen las ich alle Romane von Walter Scott; die Stunden vergingen so schnell, daß ich oft des Geläute der Festungsuhr gar nicht hörte. Durch Sokolow theilte ich meine Bücher mit einem Mit¬ gefangenen. In einem Tage verschlang ich zuweilen vier Bände und befand mich in diesen Stunden nicht'in der Festung, sondern im Schlosse Kenilworth, im Kloster, in einem schottischen Wirthshause, in den Palästen Ludwigs XI., Eduard's und Elisabeth's. Am Abende freute ich mich auf den kommenden Morgen, um ein neues Buch vorzunehmen. Die stete Erwartung einer bal¬ digen Abfertigung nach Sibirien erlaubte nur diese leichte Lectüre; ernsthafte und wissenschaftliche Bücher vorzunehmen, wäre mir zu jener Zeit unmöglich ge¬ wesen. Ich wünschte Schriften über Sibirien, aber damals war noch wenig über das Land geschrieben worden. Außer den Reisebeschreibungen von Pallas, Martynow, Markus und einigen Personen, die mit einer Mission über Kiächta nach China gereist, waren schriftliche Nachrichten nicht zu haben und die meisten dieser Nachrichten waren, wie sich in der Folge zeigte, un¬ vollständig und voller Fehler. — Diejenigen meiner Mitgefangenen, welche in Petersburg keine Verwandte hatten, erhielten Bücher aus der Festungs¬ bibliothek: die Reisen Cook's, die Geschichte des Abbe' Leporte und alte russische Zeitungen. Ein Kamerad übersandte mir einst ein Zeitungsblatt von 177L, das einen Artikel über Nordamerika enthielt, in welchem beständig von dem schändlichen Rebellen General Washington die Rede war. Eine Woche nach Vollziehung des Urtheils erhielt ein Verwandter und Dienstkamerad Erlaubniß mich zu sehen und Abschied von mir zu nehmen. Das Wiedersehen fand in der Commandantenwohnung in Gegenwart eines Platzadjutanten statt. Am 25. Juli erhielt meine Frau die Erlaubniß mich weinen neugeborenen Sohn in der Commandantur sehen zu lassen. Obgleich in Thränen, war meine Frau gefaßt und standhaft; sie erkundigte sich nach der Zeit und dem Orte unserer Wiedervereinigung. Mein Sohn, sechs Wochen alt, lag auf dem Divan des Commandanten, er schien uns durch das Lächeln seines Mundes und seine blauen Augen trösten zu wollen. Ich dat meine Frau, mir nicht sogleich nach Sibirien zu folgen, sondern erst. Wenn mein Sohn gehen könne und ich ihr über meinen neuen Aufenthaltsort Nachricht gegeben. Sie segnete mich mit einem Muttergottesbilde, ich be- werkte, daß auf der Kehrseite desselben etwas angeklebt sei; es waren tausend Rubel in Banknoten. — Ich wies die Summe zurück, Geld war mir unnütz; ich bat dagegen mir einen breiten Mantel aus grauem Tuch nähen und mit Wachstuch füttern zu lassen. Dieses Kleidungsstück war mir später von 32 ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/273
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/273>, abgerufen am 05.02.2025.