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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Colin Mustk ver Jongleur.

Mit Unrecht hat man sich gewöhnt, die reiche lyrische Poesie Nord¬
frankreichs im Mittelalter mehr oder weniger als reinen Abklatsch der etwa
fünfzig Jahre früher blühenden Trobadourpoesie anzusehen und ihr einen
selbständigen Werth abzusprechen. Wenn dies literargeschichtliche Vor¬
urtheil trotz der vorgeschrittenen Kenntniß der mittelalterlichen Poesie über¬
haupt und der altfranzösischen Dichtung im Besonderen heute noch besteht
und in manchen literaturgeschichtlichen Arbeiten wie eine Thatsache aus¬
gesprochen wird, so hat dies seinen Hauptgrund in der Vorliebe, mit
der die bedeutendsten Vertreter der romanischen Philologie in Deutschland und
Frankreich, D i ez an der Spitze, sich dem Studium der provencalischen Literatur
und der Herausgabe ihrer hauptsächlich der Domaine der lyrischen Poesie ange¬
hörenden Denkmäler zuwandten, von denen verhältnißmäßig nur noch ein kleiner
Theil ungedruckt ist*). Unterdessen ist die Poesie der nordfranzösischen Trou-
veres in Bezug auf die Herausgabe ihrer Denkmäler fast ganz und gar ver¬
nachlässigt worden, in ihrer literargeschichtlichen Behandlung aber, abgesehen
von einzelnen guten Arbeiten, in die Hände von ungeeigneten Bearbeitern ge¬
fallen, die, meist voll guten Willens und Kirchthurmpatriotismus, aber mit
nur sehr mangelhafter Kenntniß ihres Stoffes und einem weit über, das
Ziel hinausschießenden Eifer nicht nur zur Aufklärung des Gegenstandes und
zur Erweiterung der Kenntniß dieser Periode sehr wenig beitrugen, sondern
sogar durch Findenwollen, wo nichts ist, Hineinlegen von Beziehungen, wo
keine waren, die Begriffe eher falschem, als klärten und zahlreiche Irrthümer
ins Leben riefen, die, wie Unkraut, das einmal Wurzel gefaßt, von der
nachfolgenden sachkundigen Kritik nur mit Mühe ausgerottet werden können.

, Wie zahlreiche Lanzen auch im vorigen Jahrhundert für Werth und
Wichtigkeit der nordfranzösischen Literatur von Legrand d'Aussy und seinen
Gesinnungsgenossen gebrochen wurden, von den eigentlichen Vorzügen der



") Dieser kleine Theil steht auch seiner vollständigen Herausgabe durch einen der eifrigsten
Verehrer der langn" ä'vo K. A. F. Mahn, der einen großen Theil seines Lebens auf diese"
Werk verwandt hat. entgegen.
Grenzboten IV. 18L3. 21
Colin Mustk ver Jongleur.

Mit Unrecht hat man sich gewöhnt, die reiche lyrische Poesie Nord¬
frankreichs im Mittelalter mehr oder weniger als reinen Abklatsch der etwa
fünfzig Jahre früher blühenden Trobadourpoesie anzusehen und ihr einen
selbständigen Werth abzusprechen. Wenn dies literargeschichtliche Vor¬
urtheil trotz der vorgeschrittenen Kenntniß der mittelalterlichen Poesie über¬
haupt und der altfranzösischen Dichtung im Besonderen heute noch besteht
und in manchen literaturgeschichtlichen Arbeiten wie eine Thatsache aus¬
gesprochen wird, so hat dies seinen Hauptgrund in der Vorliebe, mit
der die bedeutendsten Vertreter der romanischen Philologie in Deutschland und
Frankreich, D i ez an der Spitze, sich dem Studium der provencalischen Literatur
und der Herausgabe ihrer hauptsächlich der Domaine der lyrischen Poesie ange¬
hörenden Denkmäler zuwandten, von denen verhältnißmäßig nur noch ein kleiner
Theil ungedruckt ist*). Unterdessen ist die Poesie der nordfranzösischen Trou-
veres in Bezug auf die Herausgabe ihrer Denkmäler fast ganz und gar ver¬
nachlässigt worden, in ihrer literargeschichtlichen Behandlung aber, abgesehen
von einzelnen guten Arbeiten, in die Hände von ungeeigneten Bearbeitern ge¬
fallen, die, meist voll guten Willens und Kirchthurmpatriotismus, aber mit
nur sehr mangelhafter Kenntniß ihres Stoffes und einem weit über, das
Ziel hinausschießenden Eifer nicht nur zur Aufklärung des Gegenstandes und
zur Erweiterung der Kenntniß dieser Periode sehr wenig beitrugen, sondern
sogar durch Findenwollen, wo nichts ist, Hineinlegen von Beziehungen, wo
keine waren, die Begriffe eher falschem, als klärten und zahlreiche Irrthümer
ins Leben riefen, die, wie Unkraut, das einmal Wurzel gefaßt, von der
nachfolgenden sachkundigen Kritik nur mit Mühe ausgerottet werden können.

, Wie zahlreiche Lanzen auch im vorigen Jahrhundert für Werth und
Wichtigkeit der nordfranzösischen Literatur von Legrand d'Aussy und seinen
Gesinnungsgenossen gebrochen wurden, von den eigentlichen Vorzügen der



") Dieser kleine Theil steht auch seiner vollständigen Herausgabe durch einen der eifrigsten
Verehrer der langn« ä'vo K. A. F. Mahn, der einen großen Theil seines Lebens auf diese»
Werk verwandt hat. entgegen.
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[0179] Colin Mustk ver Jongleur. Mit Unrecht hat man sich gewöhnt, die reiche lyrische Poesie Nord¬ frankreichs im Mittelalter mehr oder weniger als reinen Abklatsch der etwa fünfzig Jahre früher blühenden Trobadourpoesie anzusehen und ihr einen selbständigen Werth abzusprechen. Wenn dies literargeschichtliche Vor¬ urtheil trotz der vorgeschrittenen Kenntniß der mittelalterlichen Poesie über¬ haupt und der altfranzösischen Dichtung im Besonderen heute noch besteht und in manchen literaturgeschichtlichen Arbeiten wie eine Thatsache aus¬ gesprochen wird, so hat dies seinen Hauptgrund in der Vorliebe, mit der die bedeutendsten Vertreter der romanischen Philologie in Deutschland und Frankreich, D i ez an der Spitze, sich dem Studium der provencalischen Literatur und der Herausgabe ihrer hauptsächlich der Domaine der lyrischen Poesie ange¬ hörenden Denkmäler zuwandten, von denen verhältnißmäßig nur noch ein kleiner Theil ungedruckt ist*). Unterdessen ist die Poesie der nordfranzösischen Trou- veres in Bezug auf die Herausgabe ihrer Denkmäler fast ganz und gar ver¬ nachlässigt worden, in ihrer literargeschichtlichen Behandlung aber, abgesehen von einzelnen guten Arbeiten, in die Hände von ungeeigneten Bearbeitern ge¬ fallen, die, meist voll guten Willens und Kirchthurmpatriotismus, aber mit nur sehr mangelhafter Kenntniß ihres Stoffes und einem weit über, das Ziel hinausschießenden Eifer nicht nur zur Aufklärung des Gegenstandes und zur Erweiterung der Kenntniß dieser Periode sehr wenig beitrugen, sondern sogar durch Findenwollen, wo nichts ist, Hineinlegen von Beziehungen, wo keine waren, die Begriffe eher falschem, als klärten und zahlreiche Irrthümer ins Leben riefen, die, wie Unkraut, das einmal Wurzel gefaßt, von der nachfolgenden sachkundigen Kritik nur mit Mühe ausgerottet werden können. , Wie zahlreiche Lanzen auch im vorigen Jahrhundert für Werth und Wichtigkeit der nordfranzösischen Literatur von Legrand d'Aussy und seinen Gesinnungsgenossen gebrochen wurden, von den eigentlichen Vorzügen der ") Dieser kleine Theil steht auch seiner vollständigen Herausgabe durch einen der eifrigsten Verehrer der langn« ä'vo K. A. F. Mahn, der einen großen Theil seines Lebens auf diese» Werk verwandt hat. entgegen. Grenzboten IV. 18L3. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/179>, abgerufen am 05.02.2025.