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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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fest, daß die legitimistischen Hoffnungen sich abgekühlt und daß die offenen
und geheimen Agenten der Expossedirten an Terrain verloren haben.

Grade der Wegfall dieser äußeren und nachweisbaren Hemmnisse einer
gesunden Entwicklung beweist aber, daß es noch vielfach an den positiven Be¬
dingungen zu einer solchen fehlt. Wir sind in ein neues Stadium getreten,
schneller als sich irgend hoffen ließ, ist es mit der Periode des offenen und ten¬
denziösen Widerstandes gegen die neugeschaffenen Verhältnisse auf die Neige
gegangen; grade darum steht zu fürchten, daß der Abschnitt, in dem wir
gegenwärtig stecken und der nicht minder unbehaglich ist, um so länger dauern
werde. Aente Krankheiten sind in der Politik wie in der Medicin leichter
und rascher zu überwinden, als chronische, habituell gewordene Leiden. Und
der Zustand der Apathie und stillen Verstimmung gegen das mit der neuen
Herrschaft identische System hat alle Aussicht ein habitueller zu werden. Wenn
man die gegenwärtige Stimmung in Hessen, Nassau, Hannover !c. tröstend
mit der vergleicht, in welcher die Rheinlande sich nach dem Jahre 1814
befanden, so scheint uns dieser Vergleich nicht besonders glücklich gewählt
zu sein. Ganz abgesehen davon, daß in den ehemaligen geistlichen Kurfürsten-
thümern von dynastischem Gefühl und eigentlichem Staatsbewußtsein nicht
die Rede sein konnte, war die Stellung der preußischen Regierung in jenen
Provinzen wesentlich dadurch erleichtert, daß dieselben gewisse liberale Einrich¬
tungen besaßen, welche in den alten Provinzen fehlten und den Bewohnern
des Rheingaus das schmeichelhafte Bewußtsein gaben, in mancher Rücksicht
vor den Alt-Preußen bevorzugt und von diesen verschieden zu sein. In den
gegenwärtig neu annectirten Provinzen fehlten diese Ableiter des provinziellen
Dünkels. Der Eintritt in den preußischen Staatsverband ist nicht nur noth¬
wendig mit einer Erhöhung der auf dem Volke ruhenden Lasten und Steuern
verbunden gewesen, er hat die Hessen und Nassauer zugleich in die peinliche
Lage versetzt sich an ein ministerielles Bevormundungs- und Einmischungs¬
system zu gewöhnen, das den alten Provinzen durch jahrelange Gewöhnung
erträglich geworden war. Wenn man den Gang der Dinge, wie er sich in
den letzten Monaten gestaltet hat, im Einzelnen nachgegangen ist, so möchte
man glauben, die Ministerien der innern Angelegenheiten und des Cultus
hätten sich das Wort gegeben, einander in der angenehmen Pflicht der Volks¬
verstimmung abzulösen. Kaum daß Graf Eulenburg mit der Nichtbestätigung
von Communalwahlen eingehalten hat, so^ läßt Herr von Muster sich an¬
gelegen sein, durch seine Reorganisation des nassauischen Schulwesens die
dünngesäten Freunde der nationalen Sache abzustoßen. Die Verwandlung
der meisten Schulen dieser Landschaft in konfessionelle und die absichtliche
Förderung clericaler Einflüsse auf das gesammte Schulwesen hat nach über¬
einstimmenden Zeugnissen aller Parteien mindestens ebenso ungünstig gewirkt


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fest, daß die legitimistischen Hoffnungen sich abgekühlt und daß die offenen
und geheimen Agenten der Expossedirten an Terrain verloren haben.

Grade der Wegfall dieser äußeren und nachweisbaren Hemmnisse einer
gesunden Entwicklung beweist aber, daß es noch vielfach an den positiven Be¬
dingungen zu einer solchen fehlt. Wir sind in ein neues Stadium getreten,
schneller als sich irgend hoffen ließ, ist es mit der Periode des offenen und ten¬
denziösen Widerstandes gegen die neugeschaffenen Verhältnisse auf die Neige
gegangen; grade darum steht zu fürchten, daß der Abschnitt, in dem wir
gegenwärtig stecken und der nicht minder unbehaglich ist, um so länger dauern
werde. Aente Krankheiten sind in der Politik wie in der Medicin leichter
und rascher zu überwinden, als chronische, habituell gewordene Leiden. Und
der Zustand der Apathie und stillen Verstimmung gegen das mit der neuen
Herrschaft identische System hat alle Aussicht ein habitueller zu werden. Wenn
man die gegenwärtige Stimmung in Hessen, Nassau, Hannover !c. tröstend
mit der vergleicht, in welcher die Rheinlande sich nach dem Jahre 1814
befanden, so scheint uns dieser Vergleich nicht besonders glücklich gewählt
zu sein. Ganz abgesehen davon, daß in den ehemaligen geistlichen Kurfürsten-
thümern von dynastischem Gefühl und eigentlichem Staatsbewußtsein nicht
die Rede sein konnte, war die Stellung der preußischen Regierung in jenen
Provinzen wesentlich dadurch erleichtert, daß dieselben gewisse liberale Einrich¬
tungen besaßen, welche in den alten Provinzen fehlten und den Bewohnern
des Rheingaus das schmeichelhafte Bewußtsein gaben, in mancher Rücksicht
vor den Alt-Preußen bevorzugt und von diesen verschieden zu sein. In den
gegenwärtig neu annectirten Provinzen fehlten diese Ableiter des provinziellen
Dünkels. Der Eintritt in den preußischen Staatsverband ist nicht nur noth¬
wendig mit einer Erhöhung der auf dem Volke ruhenden Lasten und Steuern
verbunden gewesen, er hat die Hessen und Nassauer zugleich in die peinliche
Lage versetzt sich an ein ministerielles Bevormundungs- und Einmischungs¬
system zu gewöhnen, das den alten Provinzen durch jahrelange Gewöhnung
erträglich geworden war. Wenn man den Gang der Dinge, wie er sich in
den letzten Monaten gestaltet hat, im Einzelnen nachgegangen ist, so möchte
man glauben, die Ministerien der innern Angelegenheiten und des Cultus
hätten sich das Wort gegeben, einander in der angenehmen Pflicht der Volks¬
verstimmung abzulösen. Kaum daß Graf Eulenburg mit der Nichtbestätigung
von Communalwahlen eingehalten hat, so^ läßt Herr von Muster sich an¬
gelegen sein, durch seine Reorganisation des nassauischen Schulwesens die
dünngesäten Freunde der nationalen Sache abzustoßen. Die Verwandlung
der meisten Schulen dieser Landschaft in konfessionelle und die absichtliche
Förderung clericaler Einflüsse auf das gesammte Schulwesen hat nach über¬
einstimmenden Zeugnissen aller Parteien mindestens ebenso ungünstig gewirkt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/139>, abgerufen am 05.02.2025.