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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Verwaltung Polens sowie Schonung der katholischen Kirche und der polnischen
Nationalität dringend empfahl. Indem wir noch erwähnen, daß 1867 ein
neuntes Heft der Studien (1,6 UiKilisms en liussie, 2. Auflage) erschien,
welches gleichfalls ein russisches Tagesinteresse in freimüthiger und geistreicher
Weise besprach und den Zusammenhang des sogenannten Nihilismus mit
den excentrischen Nationalbestrebungen nachwies, gehen wir auf des Autors
neueste Schrift über, die ihrem Gegenstande nach sicher die wichtigste von
allen bisher erschienenen Publicationen Schedo-Ferroti's zu nennen ist, weil
sie die Grundlage des russischen Agrarsystems, den ungeteilten Gemeinde¬
besitz behandelt.

Vor wie nach Aufhebung der Leibeigenschaft hat es in Nußland be¬
kanntlich keinen individuellen Besitz des Bauern an Grund und Boden ge¬
geben. Die Gesammtheit aller der Bevölkerung eines Dorfes zugewiesenen
Grundstücke steht im Eigenthum, beziehungsweise im Pachtbesitz der gesamm-
ten Gemeinde und wird periodisch (gewöhnlich alle 9 oder 12 Jahre) zu
gleichen Theilen an alle verheiratheten Gemeindeglieder vertheilt, sodaß
ein Unterschied zwischen selbständigen Bauern und bäuerlichen Knechten,
größeren und kleineren bäuerlichen Bodeninhabern nicht besteht, sondern über
Allen das Gesetz strenger Gleichheit waltet. Diese Verkeilung geschieht ent¬
weder nach der in der Gemeinde vorhandenen Anzahl Seelen oder nach
Wirthschaftseinheiten (Tjäglo's). Im ersteren Fall erhält jeder Hausvater
ein Grundstück, das der Zahl seiner von ihm abhängigen Gemeindeglieder
entspricht, indem per Kopf eine gewisse Anzahl Dessätinen angenommen wird;
im letzteren Fall wird das Areal unter die einzelnen wirthschaftlich selbstän¬
digen Familien vertheilt und jeder Einzelantheil je nach der Zahl der Aspi¬
ranten bei der neuen Vertheilung vergrößert oder verkleinert. Für den Be¬
griff "Tjciglo" gibt es keine authentische Interpretation; während man in
früherer Zeit eine gewisse Anzahl Personen (3--4--S) auf jedes Tjciglo an¬
nahm, versteht man neuerdings in der Regel ein Ehepaar darunter; je nach¬
dem mehrere Familien (z. B. ein Vater mit erwachsenen Söhnen) zusammen
wirthschaften, wird ein einfaches, doppeltes, dreifaches u. f. w. Tjciglo an¬
genommen. Bei jeder Neuvertheilung werden alle neu begründeten Haus¬
haltungen berücksichtigt und einzeln in Rechnung gezogen, da jeder Bauer
ein selbständiger Wirthschaftsunternehmer ist. Die Vertheilung geschieht durch
die Gemeinde selbst; ist der Termin der Neuvertheilung herangerückt oder
Wird auf denselben durch das Vorhandensein neuer noch nicht versorgter
Familien provocirt, so schreitet die Gemeinde zuvörderst zu einer Classifici-
rung des gesammten Ackerlandes. Dieses Ackerland ist je nach seiner Ent¬
fernung von den Wohnstätten (dem Dorf) in nahes, entferntes und ganz
entferntes Land getheilt (unter der letzteren Kategorie versteht man "wüstes"


Verwaltung Polens sowie Schonung der katholischen Kirche und der polnischen
Nationalität dringend empfahl. Indem wir noch erwähnen, daß 1867 ein
neuntes Heft der Studien (1,6 UiKilisms en liussie, 2. Auflage) erschien,
welches gleichfalls ein russisches Tagesinteresse in freimüthiger und geistreicher
Weise besprach und den Zusammenhang des sogenannten Nihilismus mit
den excentrischen Nationalbestrebungen nachwies, gehen wir auf des Autors
neueste Schrift über, die ihrem Gegenstande nach sicher die wichtigste von
allen bisher erschienenen Publicationen Schedo-Ferroti's zu nennen ist, weil
sie die Grundlage des russischen Agrarsystems, den ungeteilten Gemeinde¬
besitz behandelt.

Vor wie nach Aufhebung der Leibeigenschaft hat es in Nußland be¬
kanntlich keinen individuellen Besitz des Bauern an Grund und Boden ge¬
geben. Die Gesammtheit aller der Bevölkerung eines Dorfes zugewiesenen
Grundstücke steht im Eigenthum, beziehungsweise im Pachtbesitz der gesamm-
ten Gemeinde und wird periodisch (gewöhnlich alle 9 oder 12 Jahre) zu
gleichen Theilen an alle verheiratheten Gemeindeglieder vertheilt, sodaß
ein Unterschied zwischen selbständigen Bauern und bäuerlichen Knechten,
größeren und kleineren bäuerlichen Bodeninhabern nicht besteht, sondern über
Allen das Gesetz strenger Gleichheit waltet. Diese Verkeilung geschieht ent¬
weder nach der in der Gemeinde vorhandenen Anzahl Seelen oder nach
Wirthschaftseinheiten (Tjäglo's). Im ersteren Fall erhält jeder Hausvater
ein Grundstück, das der Zahl seiner von ihm abhängigen Gemeindeglieder
entspricht, indem per Kopf eine gewisse Anzahl Dessätinen angenommen wird;
im letzteren Fall wird das Areal unter die einzelnen wirthschaftlich selbstän¬
digen Familien vertheilt und jeder Einzelantheil je nach der Zahl der Aspi¬
ranten bei der neuen Vertheilung vergrößert oder verkleinert. Für den Be¬
griff „Tjciglo" gibt es keine authentische Interpretation; während man in
früherer Zeit eine gewisse Anzahl Personen (3—4—S) auf jedes Tjciglo an¬
nahm, versteht man neuerdings in der Regel ein Ehepaar darunter; je nach¬
dem mehrere Familien (z. B. ein Vater mit erwachsenen Söhnen) zusammen
wirthschaften, wird ein einfaches, doppeltes, dreifaches u. f. w. Tjciglo an¬
genommen. Bei jeder Neuvertheilung werden alle neu begründeten Haus¬
haltungen berücksichtigt und einzeln in Rechnung gezogen, da jeder Bauer
ein selbständiger Wirthschaftsunternehmer ist. Die Vertheilung geschieht durch
die Gemeinde selbst; ist der Termin der Neuvertheilung herangerückt oder
Wird auf denselben durch das Vorhandensein neuer noch nicht versorgter
Familien provocirt, so schreitet die Gemeinde zuvörderst zu einer Classifici-
rung des gesammten Ackerlandes. Dieses Ackerland ist je nach seiner Ent¬
fernung von den Wohnstätten (dem Dorf) in nahes, entferntes und ganz
entferntes Land getheilt (unter der letzteren Kategorie versteht man „wüstes"


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[0012] Verwaltung Polens sowie Schonung der katholischen Kirche und der polnischen Nationalität dringend empfahl. Indem wir noch erwähnen, daß 1867 ein neuntes Heft der Studien (1,6 UiKilisms en liussie, 2. Auflage) erschien, welches gleichfalls ein russisches Tagesinteresse in freimüthiger und geistreicher Weise besprach und den Zusammenhang des sogenannten Nihilismus mit den excentrischen Nationalbestrebungen nachwies, gehen wir auf des Autors neueste Schrift über, die ihrem Gegenstande nach sicher die wichtigste von allen bisher erschienenen Publicationen Schedo-Ferroti's zu nennen ist, weil sie die Grundlage des russischen Agrarsystems, den ungeteilten Gemeinde¬ besitz behandelt. Vor wie nach Aufhebung der Leibeigenschaft hat es in Nußland be¬ kanntlich keinen individuellen Besitz des Bauern an Grund und Boden ge¬ geben. Die Gesammtheit aller der Bevölkerung eines Dorfes zugewiesenen Grundstücke steht im Eigenthum, beziehungsweise im Pachtbesitz der gesamm- ten Gemeinde und wird periodisch (gewöhnlich alle 9 oder 12 Jahre) zu gleichen Theilen an alle verheiratheten Gemeindeglieder vertheilt, sodaß ein Unterschied zwischen selbständigen Bauern und bäuerlichen Knechten, größeren und kleineren bäuerlichen Bodeninhabern nicht besteht, sondern über Allen das Gesetz strenger Gleichheit waltet. Diese Verkeilung geschieht ent¬ weder nach der in der Gemeinde vorhandenen Anzahl Seelen oder nach Wirthschaftseinheiten (Tjäglo's). Im ersteren Fall erhält jeder Hausvater ein Grundstück, das der Zahl seiner von ihm abhängigen Gemeindeglieder entspricht, indem per Kopf eine gewisse Anzahl Dessätinen angenommen wird; im letzteren Fall wird das Areal unter die einzelnen wirthschaftlich selbstän¬ digen Familien vertheilt und jeder Einzelantheil je nach der Zahl der Aspi¬ ranten bei der neuen Vertheilung vergrößert oder verkleinert. Für den Be¬ griff „Tjciglo" gibt es keine authentische Interpretation; während man in früherer Zeit eine gewisse Anzahl Personen (3—4—S) auf jedes Tjciglo an¬ nahm, versteht man neuerdings in der Regel ein Ehepaar darunter; je nach¬ dem mehrere Familien (z. B. ein Vater mit erwachsenen Söhnen) zusammen wirthschaften, wird ein einfaches, doppeltes, dreifaches u. f. w. Tjciglo an¬ genommen. Bei jeder Neuvertheilung werden alle neu begründeten Haus¬ haltungen berücksichtigt und einzeln in Rechnung gezogen, da jeder Bauer ein selbständiger Wirthschaftsunternehmer ist. Die Vertheilung geschieht durch die Gemeinde selbst; ist der Termin der Neuvertheilung herangerückt oder Wird auf denselben durch das Vorhandensein neuer noch nicht versorgter Familien provocirt, so schreitet die Gemeinde zuvörderst zu einer Classifici- rung des gesammten Ackerlandes. Dieses Ackerland ist je nach seiner Ent¬ fernung von den Wohnstätten (dem Dorf) in nahes, entferntes und ganz entferntes Land getheilt (unter der letzteren Kategorie versteht man „wüstes"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/12>, abgerufen am 05.02.2025.