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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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urkundlich bestätigt; und wie zu erwarten, finden die Geistlichen in dieser
Clausel ein Mittel zu gelegentlichem Widerstand gegen die bürgerlichen Be¬
hörden. Eine Noth-Civil-Ehe zwischen Juden und Christen aber ist nicht
gestattet. Fürchtet die Regierung vielleicht einen Aufstand der orthodoxen
Juden? Empört hätte es die altgläubigen Rabbinen ohne Zweifel, das letzte
Ghetto-Thor fallen zu sehen; denn die jüdisch-christlichen Mischehen wären
unter den gebildeten Ständen sehr häufig geworden, und die halbsemitische
Nachkommenschaft wäre in den meisten Fällen geräuschlos in der indoger¬
manischen Race aufgegangen.-- Während das Ehegesetz an zaghafter Halbheit
leidet, ist das interkonfessionelle mit fester Hand entworfen. Nichts erschwert
mehr den Uebertritt von einem Glauben zum andern. Jüdische Haustrer
und Krämer, die ein elender Polizeidruck von 1848 zur Taufe getrieben
hatte, sind jetzt mit grauen Haaren in die Synagoge zurückgekehrt, mit der
feierlichen Erklärung, daß sie im Herzen immer Juden geblieben seien. Daran
ist es nicht genug. Das Nenegatenthum erhebt unter dem apostolischen Zepter
die Stirne so frei wie unter dem Halbmond. Seine Haupttriebfedern sind wie
zu allen Zeiten der Hunger und die Liebe. Wenn aber bei dem wechsel¬
seitigen Verkehrsspiel das Christenthum noch immer am meisten Seelen ge¬
winnt, so pflegt doch der Katholicismus dabei leer auszugehen. Juden oder
Jüdinnen, die sich in ein christliches Herz verlieben, fallen nicht mehr der
heil. Jungfrau zu Füßen, nein, sie werden protestantisch und schließen mit
ihrem katholischen Gemahl eine "Nothcivilehe." Und was sagt ihr zu dem
katholischen Romeo, der von den Reizen oder Dukaten einer jüdischen
Julie angezogen sich der Procedur unterwirft, die der Erzvater Abraham
in seinem 99. Lebensjahr an sich selbst vollzog, und welche die heutigen
Reformjuden abschaffen wollen? Die Presse weiß schon von 6 oder 7 solchen
Fällen bei germanischen und slavischen Jünglingen, die dereinst zum Kreuze
zurückkehren werden, mit der aufrichtigen Erklärung, daß sie im Herzen stets
Christen geblieben seien. Unerhört, großartig, nicht wahr? Wer hätte dies
zu erleben gedacht! ruft der Neuöstreicher mit leuchtenden Augen. Nun,
diese Früchte der Ehegesetzgebung munden dem ultramontanen Clerus gewiß
wie Galle und Wermuth. Aber ist seine Macht gebrochen? Hoch ragen noch
mehrere Pfeiler des Concordats; an die Satzungen, die aus der gesammten
Clerisei eine wohl disciplinirte Armee machen, wagt keine Hand zu rühren-

Wunderliches, phantastisches Durcheinander von Gegensätzen! Ein Ge¬
misch ungleichartiger Dinge und Menschenarten war Oestreich in den Tagen
seiner patriarchalischen Karthäuserstille; dasselbe ist es natürlich noch jetzt, da
es am Anfang seiner innern Kämpfe und Umwälzungen steht. Nicht Jeder
ist Prophet genug, um aus dem Gewirr von Dissonanzen die Harmonie der
Zukunft herauszuhören.


Jak. Gilden.


Verantwortliche Redacteure: Gustav Freytag u. Julius Eckardt.
VerlaA von F. L. Herbig. -- Druck von Hüthel H Leglrr in Leipzig.

urkundlich bestätigt; und wie zu erwarten, finden die Geistlichen in dieser
Clausel ein Mittel zu gelegentlichem Widerstand gegen die bürgerlichen Be¬
hörden. Eine Noth-Civil-Ehe zwischen Juden und Christen aber ist nicht
gestattet. Fürchtet die Regierung vielleicht einen Aufstand der orthodoxen
Juden? Empört hätte es die altgläubigen Rabbinen ohne Zweifel, das letzte
Ghetto-Thor fallen zu sehen; denn die jüdisch-christlichen Mischehen wären
unter den gebildeten Ständen sehr häufig geworden, und die halbsemitische
Nachkommenschaft wäre in den meisten Fällen geräuschlos in der indoger¬
manischen Race aufgegangen.— Während das Ehegesetz an zaghafter Halbheit
leidet, ist das interkonfessionelle mit fester Hand entworfen. Nichts erschwert
mehr den Uebertritt von einem Glauben zum andern. Jüdische Haustrer
und Krämer, die ein elender Polizeidruck von 1848 zur Taufe getrieben
hatte, sind jetzt mit grauen Haaren in die Synagoge zurückgekehrt, mit der
feierlichen Erklärung, daß sie im Herzen immer Juden geblieben seien. Daran
ist es nicht genug. Das Nenegatenthum erhebt unter dem apostolischen Zepter
die Stirne so frei wie unter dem Halbmond. Seine Haupttriebfedern sind wie
zu allen Zeiten der Hunger und die Liebe. Wenn aber bei dem wechsel¬
seitigen Verkehrsspiel das Christenthum noch immer am meisten Seelen ge¬
winnt, so pflegt doch der Katholicismus dabei leer auszugehen. Juden oder
Jüdinnen, die sich in ein christliches Herz verlieben, fallen nicht mehr der
heil. Jungfrau zu Füßen, nein, sie werden protestantisch und schließen mit
ihrem katholischen Gemahl eine „Nothcivilehe." Und was sagt ihr zu dem
katholischen Romeo, der von den Reizen oder Dukaten einer jüdischen
Julie angezogen sich der Procedur unterwirft, die der Erzvater Abraham
in seinem 99. Lebensjahr an sich selbst vollzog, und welche die heutigen
Reformjuden abschaffen wollen? Die Presse weiß schon von 6 oder 7 solchen
Fällen bei germanischen und slavischen Jünglingen, die dereinst zum Kreuze
zurückkehren werden, mit der aufrichtigen Erklärung, daß sie im Herzen stets
Christen geblieben seien. Unerhört, großartig, nicht wahr? Wer hätte dies
zu erleben gedacht! ruft der Neuöstreicher mit leuchtenden Augen. Nun,
diese Früchte der Ehegesetzgebung munden dem ultramontanen Clerus gewiß
wie Galle und Wermuth. Aber ist seine Macht gebrochen? Hoch ragen noch
mehrere Pfeiler des Concordats; an die Satzungen, die aus der gesammten
Clerisei eine wohl disciplinirte Armee machen, wagt keine Hand zu rühren-

Wunderliches, phantastisches Durcheinander von Gegensätzen! Ein Ge¬
misch ungleichartiger Dinge und Menschenarten war Oestreich in den Tagen
seiner patriarchalischen Karthäuserstille; dasselbe ist es natürlich noch jetzt, da
es am Anfang seiner innern Kämpfe und Umwälzungen steht. Nicht Jeder
ist Prophet genug, um aus dem Gewirr von Dissonanzen die Harmonie der
Zukunft herauszuhören.


Jak. Gilden.


Verantwortliche Redacteure: Gustav Freytag u. Julius Eckardt.
VerlaA von F. L. Herbig. — Druck von Hüthel H Leglrr in Leipzig.
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[0512] urkundlich bestätigt; und wie zu erwarten, finden die Geistlichen in dieser Clausel ein Mittel zu gelegentlichem Widerstand gegen die bürgerlichen Be¬ hörden. Eine Noth-Civil-Ehe zwischen Juden und Christen aber ist nicht gestattet. Fürchtet die Regierung vielleicht einen Aufstand der orthodoxen Juden? Empört hätte es die altgläubigen Rabbinen ohne Zweifel, das letzte Ghetto-Thor fallen zu sehen; denn die jüdisch-christlichen Mischehen wären unter den gebildeten Ständen sehr häufig geworden, und die halbsemitische Nachkommenschaft wäre in den meisten Fällen geräuschlos in der indoger¬ manischen Race aufgegangen.— Während das Ehegesetz an zaghafter Halbheit leidet, ist das interkonfessionelle mit fester Hand entworfen. Nichts erschwert mehr den Uebertritt von einem Glauben zum andern. Jüdische Haustrer und Krämer, die ein elender Polizeidruck von 1848 zur Taufe getrieben hatte, sind jetzt mit grauen Haaren in die Synagoge zurückgekehrt, mit der feierlichen Erklärung, daß sie im Herzen immer Juden geblieben seien. Daran ist es nicht genug. Das Nenegatenthum erhebt unter dem apostolischen Zepter die Stirne so frei wie unter dem Halbmond. Seine Haupttriebfedern sind wie zu allen Zeiten der Hunger und die Liebe. Wenn aber bei dem wechsel¬ seitigen Verkehrsspiel das Christenthum noch immer am meisten Seelen ge¬ winnt, so pflegt doch der Katholicismus dabei leer auszugehen. Juden oder Jüdinnen, die sich in ein christliches Herz verlieben, fallen nicht mehr der heil. Jungfrau zu Füßen, nein, sie werden protestantisch und schließen mit ihrem katholischen Gemahl eine „Nothcivilehe." Und was sagt ihr zu dem katholischen Romeo, der von den Reizen oder Dukaten einer jüdischen Julie angezogen sich der Procedur unterwirft, die der Erzvater Abraham in seinem 99. Lebensjahr an sich selbst vollzog, und welche die heutigen Reformjuden abschaffen wollen? Die Presse weiß schon von 6 oder 7 solchen Fällen bei germanischen und slavischen Jünglingen, die dereinst zum Kreuze zurückkehren werden, mit der aufrichtigen Erklärung, daß sie im Herzen stets Christen geblieben seien. Unerhört, großartig, nicht wahr? Wer hätte dies zu erleben gedacht! ruft der Neuöstreicher mit leuchtenden Augen. Nun, diese Früchte der Ehegesetzgebung munden dem ultramontanen Clerus gewiß wie Galle und Wermuth. Aber ist seine Macht gebrochen? Hoch ragen noch mehrere Pfeiler des Concordats; an die Satzungen, die aus der gesammten Clerisei eine wohl disciplinirte Armee machen, wagt keine Hand zu rühren- Wunderliches, phantastisches Durcheinander von Gegensätzen! Ein Ge¬ misch ungleichartiger Dinge und Menschenarten war Oestreich in den Tagen seiner patriarchalischen Karthäuserstille; dasselbe ist es natürlich noch jetzt, da es am Anfang seiner innern Kämpfe und Umwälzungen steht. Nicht Jeder ist Prophet genug, um aus dem Gewirr von Dissonanzen die Harmonie der Zukunft herauszuhören. Jak. Gilden. Verantwortliche Redacteure: Gustav Freytag u. Julius Eckardt. VerlaA von F. L. Herbig. — Druck von Hüthel H Leglrr in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/512>, abgerufen am 04.07.2024.