Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

biete der Politik, der Literatur, der Religion vorbei. Die Religion wird,
soweit sie nicht schon früher Schaden gelitten, durch die Philosophie zersetzt
und zerfressen und büßt ihren alten poetischen Zauber ein. Die Poesie, die
namentlich in der Tragödie im vorausgehenden Jahrhundert das Höchste ge¬
leistet hat, sinkt rasch herab. Epos und Lyrik sind fast verstummt; auf der
Bühne herrscht die Nachahmung euripideischer Weise, welche auf psychologische
Detailausführung der Hauptpersonen wie auf pathetische Steigerung der
Scenen und tragischen Momente allen Nachdruck legt. Eine entsprechende
Tendenz, nur auf anderes Gebiet übertragen, offenbart sich in der neueren
Komödie. Seit die Politik der Komödie verschlossen ward, begiebt sie sich in
die Privathäuser, sie portraitirt in scharfen Zügen die einzelnen Charaktere
der Familie und des socialen Lebens und setzt daneben ihr Verdienst in ge¬
schickte Schürzung und Lösung von Intriguen. In der Politik endlich be¬
gegnen wir wohl einer schwachen Nachblüthe der früheren Macht, sie ist aber
'von kurzem und wechselndem Bestände. Wahrhaft große Charaktere treten selten
auf, eine Erscheinung wie Demosthenes steht einsam. Vergebens kämpft er
an gegen das hereinbrechende Verderben, der Schwerpunkt griechischer Ge¬
schichte neigt bereits gegen Norden und gegen Osten, nach Asien.

Die Westküste der kleinasiatischen Halbinsel hatte bereits einmal eine be¬
deutende Rolle in der Entwicklung der griechischen Kultur gespielt. Die
reichen Handelsstädte jenes glücklichen Küstensaumes und seiner Inseln, Milet
und Ephesos, Samos und Mytilene hatten die Anfänge hellenischer Litera¬
tur und Kunst entstehen sehen. Von hier aus waren die Wellen geistigen
Lebens über das ägäische Jnselmeer gezogen, bis sie im europäischen Grie¬
chenland ihren Höhepunkt erreicht hatten. Jetzt, im vierten Jahrhundert,
begann die Rückströmung. Namentlich in den bildenden Künsten, die in dem
ermatteten Griechenland keinen Platz mehr finden, läßt sich, das verfolgen.
Eine Menge neuer Stadtanlagen in den verschiedenen Landschaften Klein¬
asiens beschäftigt das Talent der Baumeister, welche seit Kurzem gelernt
haben, die Gründung der Städte nicht mehr dem bloßen Zufall zu überlassen,
sondern nach kunstvollem Plane, jedesmal den besonderen Bedingungen des
Locals entsprechend vorzunehmen. Der Kunstmäßigkeit des Gesammtarrange-
ments entspricht Reichthum der Ausführung im Einzelnen. Es beginnt eine
förmliche Reaction gegen den edelsten und einfachsten griechischen Baustil,
den dorischen, welcher den glänzenderen, die Phantasie weniger beschränkenden
Stilen, dem in Kleinasien von jeher besonders beliebten ionischen und dem
korinthischen weichen muß. Auch bloße Effecte, welche nicht aus inneren Vor¬
zügen, sondern auf täuschendem Scheine beruhen, verschmäht die Architektur
nicht: Hermogenes, der bedeutendste Baumeister der Zeit, ist Erfinder
jener Tempelgattungen des Pseudodipteros u. a. in., welche bei beträchtlicher


biete der Politik, der Literatur, der Religion vorbei. Die Religion wird,
soweit sie nicht schon früher Schaden gelitten, durch die Philosophie zersetzt
und zerfressen und büßt ihren alten poetischen Zauber ein. Die Poesie, die
namentlich in der Tragödie im vorausgehenden Jahrhundert das Höchste ge¬
leistet hat, sinkt rasch herab. Epos und Lyrik sind fast verstummt; auf der
Bühne herrscht die Nachahmung euripideischer Weise, welche auf psychologische
Detailausführung der Hauptpersonen wie auf pathetische Steigerung der
Scenen und tragischen Momente allen Nachdruck legt. Eine entsprechende
Tendenz, nur auf anderes Gebiet übertragen, offenbart sich in der neueren
Komödie. Seit die Politik der Komödie verschlossen ward, begiebt sie sich in
die Privathäuser, sie portraitirt in scharfen Zügen die einzelnen Charaktere
der Familie und des socialen Lebens und setzt daneben ihr Verdienst in ge¬
schickte Schürzung und Lösung von Intriguen. In der Politik endlich be¬
gegnen wir wohl einer schwachen Nachblüthe der früheren Macht, sie ist aber
'von kurzem und wechselndem Bestände. Wahrhaft große Charaktere treten selten
auf, eine Erscheinung wie Demosthenes steht einsam. Vergebens kämpft er
an gegen das hereinbrechende Verderben, der Schwerpunkt griechischer Ge¬
schichte neigt bereits gegen Norden und gegen Osten, nach Asien.

Die Westküste der kleinasiatischen Halbinsel hatte bereits einmal eine be¬
deutende Rolle in der Entwicklung der griechischen Kultur gespielt. Die
reichen Handelsstädte jenes glücklichen Küstensaumes und seiner Inseln, Milet
und Ephesos, Samos und Mytilene hatten die Anfänge hellenischer Litera¬
tur und Kunst entstehen sehen. Von hier aus waren die Wellen geistigen
Lebens über das ägäische Jnselmeer gezogen, bis sie im europäischen Grie¬
chenland ihren Höhepunkt erreicht hatten. Jetzt, im vierten Jahrhundert,
begann die Rückströmung. Namentlich in den bildenden Künsten, die in dem
ermatteten Griechenland keinen Platz mehr finden, läßt sich, das verfolgen.
Eine Menge neuer Stadtanlagen in den verschiedenen Landschaften Klein¬
asiens beschäftigt das Talent der Baumeister, welche seit Kurzem gelernt
haben, die Gründung der Städte nicht mehr dem bloßen Zufall zu überlassen,
sondern nach kunstvollem Plane, jedesmal den besonderen Bedingungen des
Locals entsprechend vorzunehmen. Der Kunstmäßigkeit des Gesammtarrange-
ments entspricht Reichthum der Ausführung im Einzelnen. Es beginnt eine
förmliche Reaction gegen den edelsten und einfachsten griechischen Baustil,
den dorischen, welcher den glänzenderen, die Phantasie weniger beschränkenden
Stilen, dem in Kleinasien von jeher besonders beliebten ionischen und dem
korinthischen weichen muß. Auch bloße Effecte, welche nicht aus inneren Vor¬
zügen, sondern auf täuschendem Scheine beruhen, verschmäht die Architektur
nicht: Hermogenes, der bedeutendste Baumeister der Zeit, ist Erfinder
jener Tempelgattungen des Pseudodipteros u. a. in., welche bei beträchtlicher


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287114"/>
          <p xml:id="ID_1026" prev="#ID_1025"> biete der Politik, der Literatur, der Religion vorbei. Die Religion wird,<lb/>
soweit sie nicht schon früher Schaden gelitten, durch die Philosophie zersetzt<lb/>
und zerfressen und büßt ihren alten poetischen Zauber ein. Die Poesie, die<lb/>
namentlich in der Tragödie im vorausgehenden Jahrhundert das Höchste ge¬<lb/>
leistet hat, sinkt rasch herab. Epos und Lyrik sind fast verstummt; auf der<lb/>
Bühne herrscht die Nachahmung euripideischer Weise, welche auf psychologische<lb/>
Detailausführung der Hauptpersonen wie auf pathetische Steigerung der<lb/>
Scenen und tragischen Momente allen Nachdruck legt. Eine entsprechende<lb/>
Tendenz, nur auf anderes Gebiet übertragen, offenbart sich in der neueren<lb/>
Komödie. Seit die Politik der Komödie verschlossen ward, begiebt sie sich in<lb/>
die Privathäuser, sie portraitirt in scharfen Zügen die einzelnen Charaktere<lb/>
der Familie und des socialen Lebens und setzt daneben ihr Verdienst in ge¬<lb/>
schickte Schürzung und Lösung von Intriguen. In der Politik endlich be¬<lb/>
gegnen wir wohl einer schwachen Nachblüthe der früheren Macht, sie ist aber<lb/>
'von kurzem und wechselndem Bestände. Wahrhaft große Charaktere treten selten<lb/>
auf, eine Erscheinung wie Demosthenes steht einsam. Vergebens kämpft er<lb/>
an gegen das hereinbrechende Verderben, der Schwerpunkt griechischer Ge¬<lb/>
schichte neigt bereits gegen Norden und gegen Osten, nach Asien.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1027" next="#ID_1028"> Die Westküste der kleinasiatischen Halbinsel hatte bereits einmal eine be¬<lb/>
deutende Rolle in der Entwicklung der griechischen Kultur gespielt. Die<lb/>
reichen Handelsstädte jenes glücklichen Küstensaumes und seiner Inseln, Milet<lb/>
und Ephesos, Samos und Mytilene hatten die Anfänge hellenischer Litera¬<lb/>
tur und Kunst entstehen sehen. Von hier aus waren die Wellen geistigen<lb/>
Lebens über das ägäische Jnselmeer gezogen, bis sie im europäischen Grie¬<lb/>
chenland ihren Höhepunkt erreicht hatten. Jetzt, im vierten Jahrhundert,<lb/>
begann die Rückströmung. Namentlich in den bildenden Künsten, die in dem<lb/>
ermatteten Griechenland keinen Platz mehr finden, läßt sich, das verfolgen.<lb/>
Eine Menge neuer Stadtanlagen in den verschiedenen Landschaften Klein¬<lb/>
asiens beschäftigt das Talent der Baumeister, welche seit Kurzem gelernt<lb/>
haben, die Gründung der Städte nicht mehr dem bloßen Zufall zu überlassen,<lb/>
sondern nach kunstvollem Plane, jedesmal den besonderen Bedingungen des<lb/>
Locals entsprechend vorzunehmen. Der Kunstmäßigkeit des Gesammtarrange-<lb/>
ments entspricht Reichthum der Ausführung im Einzelnen. Es beginnt eine<lb/>
förmliche Reaction gegen den edelsten und einfachsten griechischen Baustil,<lb/>
den dorischen, welcher den glänzenderen, die Phantasie weniger beschränkenden<lb/>
Stilen, dem in Kleinasien von jeher besonders beliebten ionischen und dem<lb/>
korinthischen weichen muß. Auch bloße Effecte, welche nicht aus inneren Vor¬<lb/>
zügen, sondern auf täuschendem Scheine beruhen, verschmäht die Architektur<lb/>
nicht: Hermogenes, der bedeutendste Baumeister der Zeit, ist Erfinder<lb/>
jener Tempelgattungen des Pseudodipteros u. a. in., welche bei beträchtlicher</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0402] biete der Politik, der Literatur, der Religion vorbei. Die Religion wird, soweit sie nicht schon früher Schaden gelitten, durch die Philosophie zersetzt und zerfressen und büßt ihren alten poetischen Zauber ein. Die Poesie, die namentlich in der Tragödie im vorausgehenden Jahrhundert das Höchste ge¬ leistet hat, sinkt rasch herab. Epos und Lyrik sind fast verstummt; auf der Bühne herrscht die Nachahmung euripideischer Weise, welche auf psychologische Detailausführung der Hauptpersonen wie auf pathetische Steigerung der Scenen und tragischen Momente allen Nachdruck legt. Eine entsprechende Tendenz, nur auf anderes Gebiet übertragen, offenbart sich in der neueren Komödie. Seit die Politik der Komödie verschlossen ward, begiebt sie sich in die Privathäuser, sie portraitirt in scharfen Zügen die einzelnen Charaktere der Familie und des socialen Lebens und setzt daneben ihr Verdienst in ge¬ schickte Schürzung und Lösung von Intriguen. In der Politik endlich be¬ gegnen wir wohl einer schwachen Nachblüthe der früheren Macht, sie ist aber 'von kurzem und wechselndem Bestände. Wahrhaft große Charaktere treten selten auf, eine Erscheinung wie Demosthenes steht einsam. Vergebens kämpft er an gegen das hereinbrechende Verderben, der Schwerpunkt griechischer Ge¬ schichte neigt bereits gegen Norden und gegen Osten, nach Asien. Die Westküste der kleinasiatischen Halbinsel hatte bereits einmal eine be¬ deutende Rolle in der Entwicklung der griechischen Kultur gespielt. Die reichen Handelsstädte jenes glücklichen Küstensaumes und seiner Inseln, Milet und Ephesos, Samos und Mytilene hatten die Anfänge hellenischer Litera¬ tur und Kunst entstehen sehen. Von hier aus waren die Wellen geistigen Lebens über das ägäische Jnselmeer gezogen, bis sie im europäischen Grie¬ chenland ihren Höhepunkt erreicht hatten. Jetzt, im vierten Jahrhundert, begann die Rückströmung. Namentlich in den bildenden Künsten, die in dem ermatteten Griechenland keinen Platz mehr finden, läßt sich, das verfolgen. Eine Menge neuer Stadtanlagen in den verschiedenen Landschaften Klein¬ asiens beschäftigt das Talent der Baumeister, welche seit Kurzem gelernt haben, die Gründung der Städte nicht mehr dem bloßen Zufall zu überlassen, sondern nach kunstvollem Plane, jedesmal den besonderen Bedingungen des Locals entsprechend vorzunehmen. Der Kunstmäßigkeit des Gesammtarrange- ments entspricht Reichthum der Ausführung im Einzelnen. Es beginnt eine förmliche Reaction gegen den edelsten und einfachsten griechischen Baustil, den dorischen, welcher den glänzenderen, die Phantasie weniger beschränkenden Stilen, dem in Kleinasien von jeher besonders beliebten ionischen und dem korinthischen weichen muß. Auch bloße Effecte, welche nicht aus inneren Vor¬ zügen, sondern auf täuschendem Scheine beruhen, verschmäht die Architektur nicht: Hermogenes, der bedeutendste Baumeister der Zeit, ist Erfinder jener Tempelgattungen des Pseudodipteros u. a. in., welche bei beträchtlicher

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/402
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/402>, abgerufen am 04.07.2024.