Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dagogen, welche sich von einer Sclavin durch Modulationen auf der Doppel¬
flöte in waches Träumen tuller lassen. Die Schönheit der classischen Mo¬
delle, die vigoureuse Farbe ohne Relief, endlich die virtuose Ausführung des
Beiwerks. Rosen, Früchte, Marmorvasen und einer Silberstatue der Venus,
zeugen von dem originellen Stil und der hohen Detailkenntniß des Meisters.
Herzgewinnender tritt indessen Charles Müller -- (der berühmte Autor
des "Äppel ach äerniöres victimes 6s 1a terreur" im Luxemburg) -- nach
langer Pause mit seiner Desdemona und Emilie entgegen. In der That
sind Gram, Liebe und Unschuld diesen noblen Zügen so ergreifend ausge¬
prägt, daß wir fühlen, wie selbst der Trost im Gebet, worauf das geschlos¬
sene Andachtsbuch auf dem Pult hindeutet, ihr versagt bleibt. Emilie hält
sich, matt tröstend, auch im Bilde genau auf dem zweiten Platz, den ihr
Shakspeare angewiesen. Vielleicht um sich von so tragischen Motiv zu
erholen, wählte Herr Müller sür sein anderes Bild einen halb erwachsenen
Jungen, welcher mit den Büchern unter der Bank auch den Schulzwang
von sich geworfen hat, und der eine erhaschte Orange in der einen Hand
wiegend, mit der andern das übergeschlagene Bein im rothen Höschen cares-
sirend, uns im Bewußtsein der schwer eroberten illegaler Freiheit anblickt.

Gegenüber dem litterarischen Lakonismus Gerome's, der zu wenig sagt,
weil er zu viel zu verstehen geben will, tritt nun hier Gustav Dore"s seichte
Weitschweifigkeit auf. Sobald er das Reich der Illustration verläßt, und
in lebensgroßen Figuren und mit einander zankenden Farben zu uns
redet, zeigt er, daß er, der den Grabstichel so sicher wie dreist handhabt,
kein Colorist ist, und die außerordentliche Fruchtbarkeit seiner Phantasie ver¬
führt ihn, die Zahl der Gestalten dort zu vervielfältigen, wo wenige, sorg¬
fältiger studirt, verkleinert und strenger in sich geschlossen, seine immer pi¬
kanten Ideen energischer ausgedrückt hätten. Die "Spielhölle in Baden" im
vorigen Salon war ein solcher verunglückter Versuch, eine Illustration in
Lebensgröße bunt zu coloriren, sein "Neophyt" unter betenden Karthäuser-
Mönchen, wobei er der Klippe der Farben-Accorde diesmal absichtlich aus¬
zuweichen scheint, wäre weniger befremdend, gäbe das Skizzenhafte in den
meisten Charakterköpfen nicht zu erkennen, daß Herr Dore" glaubt, daS
Genie bedürfe der Mühe nicht, seine Hand verwandele, wie die des Mi-
das, ohne weiteres Alles in Gold, was sie nur berührt. A. Muratou
(Medaille), der uns den Mönch knieend in seiner Zelle mit geschlossenen
Augen und gefalteten Händen demüthig in hingebender Andacht zeigt, wäh¬
rend ein Strahl des hereinfallenden Lichtes sein friedliches Haupt wie mit
einem Nimbus umkleidet, hat uns nach diesem sehr wohl gethan -- Auch
Dore"s zweitem Bilde fehlen der electrische Funke und das moralische Band,
welches 5 bis 6 Figuren zu einem lebendigen Ganzen verbinden könnte.


dagogen, welche sich von einer Sclavin durch Modulationen auf der Doppel¬
flöte in waches Träumen tuller lassen. Die Schönheit der classischen Mo¬
delle, die vigoureuse Farbe ohne Relief, endlich die virtuose Ausführung des
Beiwerks. Rosen, Früchte, Marmorvasen und einer Silberstatue der Venus,
zeugen von dem originellen Stil und der hohen Detailkenntniß des Meisters.
Herzgewinnender tritt indessen Charles Müller — (der berühmte Autor
des „Äppel ach äerniöres victimes 6s 1a terreur" im Luxemburg) — nach
langer Pause mit seiner Desdemona und Emilie entgegen. In der That
sind Gram, Liebe und Unschuld diesen noblen Zügen so ergreifend ausge¬
prägt, daß wir fühlen, wie selbst der Trost im Gebet, worauf das geschlos¬
sene Andachtsbuch auf dem Pult hindeutet, ihr versagt bleibt. Emilie hält
sich, matt tröstend, auch im Bilde genau auf dem zweiten Platz, den ihr
Shakspeare angewiesen. Vielleicht um sich von so tragischen Motiv zu
erholen, wählte Herr Müller sür sein anderes Bild einen halb erwachsenen
Jungen, welcher mit den Büchern unter der Bank auch den Schulzwang
von sich geworfen hat, und der eine erhaschte Orange in der einen Hand
wiegend, mit der andern das übergeschlagene Bein im rothen Höschen cares-
sirend, uns im Bewußtsein der schwer eroberten illegaler Freiheit anblickt.

Gegenüber dem litterarischen Lakonismus Gerome's, der zu wenig sagt,
weil er zu viel zu verstehen geben will, tritt nun hier Gustav Dore"s seichte
Weitschweifigkeit auf. Sobald er das Reich der Illustration verläßt, und
in lebensgroßen Figuren und mit einander zankenden Farben zu uns
redet, zeigt er, daß er, der den Grabstichel so sicher wie dreist handhabt,
kein Colorist ist, und die außerordentliche Fruchtbarkeit seiner Phantasie ver¬
führt ihn, die Zahl der Gestalten dort zu vervielfältigen, wo wenige, sorg¬
fältiger studirt, verkleinert und strenger in sich geschlossen, seine immer pi¬
kanten Ideen energischer ausgedrückt hätten. Die „Spielhölle in Baden" im
vorigen Salon war ein solcher verunglückter Versuch, eine Illustration in
Lebensgröße bunt zu coloriren, sein „Neophyt" unter betenden Karthäuser-
Mönchen, wobei er der Klippe der Farben-Accorde diesmal absichtlich aus¬
zuweichen scheint, wäre weniger befremdend, gäbe das Skizzenhafte in den
meisten Charakterköpfen nicht zu erkennen, daß Herr Dore" glaubt, daS
Genie bedürfe der Mühe nicht, seine Hand verwandele, wie die des Mi-
das, ohne weiteres Alles in Gold, was sie nur berührt. A. Muratou
(Medaille), der uns den Mönch knieend in seiner Zelle mit geschlossenen
Augen und gefalteten Händen demüthig in hingebender Andacht zeigt, wäh¬
rend ein Strahl des hereinfallenden Lichtes sein friedliches Haupt wie mit
einem Nimbus umkleidet, hat uns nach diesem sehr wohl gethan — Auch
Dore"s zweitem Bilde fehlen der electrische Funke und das moralische Band,
welches 5 bis 6 Figuren zu einem lebendigen Ganzen verbinden könnte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0362" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287074"/>
          <p xml:id="ID_923" prev="#ID_922"> dagogen, welche sich von einer Sclavin durch Modulationen auf der Doppel¬<lb/>
flöte in waches Träumen tuller lassen. Die Schönheit der classischen Mo¬<lb/>
delle, die vigoureuse Farbe ohne Relief, endlich die virtuose Ausführung des<lb/>
Beiwerks. Rosen, Früchte, Marmorvasen und einer Silberstatue der Venus,<lb/>
zeugen von dem originellen Stil und der hohen Detailkenntniß des Meisters.<lb/>
Herzgewinnender tritt indessen Charles Müller &#x2014; (der berühmte Autor<lb/>
des &#x201E;Äppel ach äerniöres victimes 6s 1a terreur" im Luxemburg) &#x2014; nach<lb/>
langer Pause mit seiner Desdemona und Emilie entgegen. In der That<lb/>
sind Gram, Liebe und Unschuld diesen noblen Zügen so ergreifend ausge¬<lb/>
prägt, daß wir fühlen, wie selbst der Trost im Gebet, worauf das geschlos¬<lb/>
sene Andachtsbuch auf dem Pult hindeutet, ihr versagt bleibt. Emilie hält<lb/>
sich, matt tröstend, auch im Bilde genau auf dem zweiten Platz, den ihr<lb/>
Shakspeare angewiesen. Vielleicht um sich von so tragischen Motiv zu<lb/>
erholen, wählte Herr Müller sür sein anderes Bild einen halb erwachsenen<lb/>
Jungen, welcher mit den Büchern unter der Bank auch den Schulzwang<lb/>
von sich geworfen hat, und der eine erhaschte Orange in der einen Hand<lb/>
wiegend, mit der andern das übergeschlagene Bein im rothen Höschen cares-<lb/>
sirend, uns im Bewußtsein der schwer eroberten illegaler Freiheit anblickt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_924" next="#ID_925"> Gegenüber dem litterarischen Lakonismus Gerome's, der zu wenig sagt,<lb/>
weil er zu viel zu verstehen geben will, tritt nun hier Gustav Dore"s seichte<lb/>
Weitschweifigkeit auf. Sobald er das Reich der Illustration verläßt, und<lb/>
in lebensgroßen Figuren und mit einander zankenden Farben zu uns<lb/>
redet, zeigt er, daß er, der den Grabstichel so sicher wie dreist handhabt,<lb/>
kein Colorist ist, und die außerordentliche Fruchtbarkeit seiner Phantasie ver¬<lb/>
führt ihn, die Zahl der Gestalten dort zu vervielfältigen, wo wenige, sorg¬<lb/>
fältiger studirt, verkleinert und strenger in sich geschlossen, seine immer pi¬<lb/>
kanten Ideen energischer ausgedrückt hätten. Die &#x201E;Spielhölle in Baden" im<lb/>
vorigen Salon war ein solcher verunglückter Versuch, eine Illustration in<lb/>
Lebensgröße bunt zu coloriren, sein &#x201E;Neophyt" unter betenden Karthäuser-<lb/>
Mönchen, wobei er der Klippe der Farben-Accorde diesmal absichtlich aus¬<lb/>
zuweichen scheint, wäre weniger befremdend, gäbe das Skizzenhafte in den<lb/>
meisten Charakterköpfen nicht zu erkennen, daß Herr Dore" glaubt, daS<lb/>
Genie bedürfe der Mühe nicht, seine Hand verwandele, wie die des Mi-<lb/>
das, ohne weiteres Alles in Gold, was sie nur berührt. A. Muratou<lb/>
(Medaille), der uns den Mönch knieend in seiner Zelle mit geschlossenen<lb/>
Augen und gefalteten Händen demüthig in hingebender Andacht zeigt, wäh¬<lb/>
rend ein Strahl des hereinfallenden Lichtes sein friedliches Haupt wie mit<lb/>
einem Nimbus umkleidet, hat uns nach diesem sehr wohl gethan &#x2014; Auch<lb/>
Dore"s zweitem Bilde fehlen der electrische Funke und das moralische Band,<lb/>
welches 5 bis 6 Figuren zu einem lebendigen Ganzen verbinden könnte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0362] dagogen, welche sich von einer Sclavin durch Modulationen auf der Doppel¬ flöte in waches Träumen tuller lassen. Die Schönheit der classischen Mo¬ delle, die vigoureuse Farbe ohne Relief, endlich die virtuose Ausführung des Beiwerks. Rosen, Früchte, Marmorvasen und einer Silberstatue der Venus, zeugen von dem originellen Stil und der hohen Detailkenntniß des Meisters. Herzgewinnender tritt indessen Charles Müller — (der berühmte Autor des „Äppel ach äerniöres victimes 6s 1a terreur" im Luxemburg) — nach langer Pause mit seiner Desdemona und Emilie entgegen. In der That sind Gram, Liebe und Unschuld diesen noblen Zügen so ergreifend ausge¬ prägt, daß wir fühlen, wie selbst der Trost im Gebet, worauf das geschlos¬ sene Andachtsbuch auf dem Pult hindeutet, ihr versagt bleibt. Emilie hält sich, matt tröstend, auch im Bilde genau auf dem zweiten Platz, den ihr Shakspeare angewiesen. Vielleicht um sich von so tragischen Motiv zu erholen, wählte Herr Müller sür sein anderes Bild einen halb erwachsenen Jungen, welcher mit den Büchern unter der Bank auch den Schulzwang von sich geworfen hat, und der eine erhaschte Orange in der einen Hand wiegend, mit der andern das übergeschlagene Bein im rothen Höschen cares- sirend, uns im Bewußtsein der schwer eroberten illegaler Freiheit anblickt. Gegenüber dem litterarischen Lakonismus Gerome's, der zu wenig sagt, weil er zu viel zu verstehen geben will, tritt nun hier Gustav Dore"s seichte Weitschweifigkeit auf. Sobald er das Reich der Illustration verläßt, und in lebensgroßen Figuren und mit einander zankenden Farben zu uns redet, zeigt er, daß er, der den Grabstichel so sicher wie dreist handhabt, kein Colorist ist, und die außerordentliche Fruchtbarkeit seiner Phantasie ver¬ führt ihn, die Zahl der Gestalten dort zu vervielfältigen, wo wenige, sorg¬ fältiger studirt, verkleinert und strenger in sich geschlossen, seine immer pi¬ kanten Ideen energischer ausgedrückt hätten. Die „Spielhölle in Baden" im vorigen Salon war ein solcher verunglückter Versuch, eine Illustration in Lebensgröße bunt zu coloriren, sein „Neophyt" unter betenden Karthäuser- Mönchen, wobei er der Klippe der Farben-Accorde diesmal absichtlich aus¬ zuweichen scheint, wäre weniger befremdend, gäbe das Skizzenhafte in den meisten Charakterköpfen nicht zu erkennen, daß Herr Dore" glaubt, daS Genie bedürfe der Mühe nicht, seine Hand verwandele, wie die des Mi- das, ohne weiteres Alles in Gold, was sie nur berührt. A. Muratou (Medaille), der uns den Mönch knieend in seiner Zelle mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen demüthig in hingebender Andacht zeigt, wäh¬ rend ein Strahl des hereinfallenden Lichtes sein friedliches Haupt wie mit einem Nimbus umkleidet, hat uns nach diesem sehr wohl gethan — Auch Dore"s zweitem Bilde fehlen der electrische Funke und das moralische Band, welches 5 bis 6 Figuren zu einem lebendigen Ganzen verbinden könnte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/362
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/362>, abgerufen am 04.07.2024.