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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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das Maß menschlicher Kräfte wieder auf sein gewöhnliches Niveau zurück¬
gesunken ist. Weder hat es der Süden über sich gewinnen können, aus der
prekairen Lage herauszutreten, in welche er durch die Auflösung des alten
Bundes gerathen war und welche schon am ersten Tage für unhaltbar galt,
noch läßt sich behaupten, daß das Verhältniß des norddeutschen Liberalismus
zu der Siegerin von Königgrätz ein abgeklärtes und feststehendes geworden
sei. Selbst die Franzosen, denen gewaltsame Entschließungen sonst leichter
werden als uns, selbst die Franzosen sind über das Verhältniß, das sie zu
dem neuen Deutschland einnehmen sollen, noch nicht schlüssig geworden. Sie
stehen noch immer mit gekreuzten Armen an der Brücke von Kehl still und
harren der Dinge, die da kommen sollen.

Daß 1866 auf die längere Dauer von Provisorien so unhaltbarer Art
nicht gerechnet worden, ist schon aus der Stimmung erklärlich, welche damals
herrschte. Der Tag, an welchem sich der Umschwung dieser Stimmung voll¬
zog, läßt sich aber noch heute ziemlich genau bestimmen. Es war der
Tag von Luxemburg. Nicht als ob wir ein wirkliches Gewicht auf diesen
Fetzen Landes legten, der dem Particularismus zum stammverwandten erst
geworden, nachdem er von den preußischen Garnisonen geräumt ward. Läug-
nen aber läßt sich nicht, daß Preußens Entschluß, die Pforten des Krieges um
Luxemburgs willen nicht noch einmal zu öffnen, in und außerhalb Deutsch¬
lands von nachhaltigem Einfluß gewesen und mit dem Zeitpunkt der Ernüch¬
terung zusammengetroffen ist, welche der Geschichte des letzten Jahres ihr
specifisches Gepräge aufgedrückt hat. Trotz des Erfolges, den die Freunde
der nationalen Sache beim Schluß des constituirenden Reichstags aufzuweisen
hatten, war die Stimmung schon beim Auseinandergehen desselben von der des
Eröffnungstages gründlich verschieden. Die Ereignisse, welche dann folgten, waren
nicht dazu angethan, die großen Leidenschaften neu anzufachen, welche die Deut¬
schen während des Winters 1866--67 bewegt hatten. Seele Furcht vor neuen
kriegerischen Verwickelungen lähmte Handel und Verkehr, die überdies unter den
Wirkungen einer ziemlich allgemeinen Mißernte zu leiden hatten; in Frankreich
machte die Unzufriedenheit mit der auch in Mexiko gedemüthigten Regierung
so reißende Fortschritte, daß die Beschwichtigung der inneren Gährung durch
einen auswärtigen Krieg mehr wie wahrscheinlich wurde. Dazu kam, daß
die von der Organisation des neuen Bundes und seiner Armee in Anspruch
genommenen Opfer größer waren, als man irgend erwartet hatte, und daß
die Säckel der Steuerzahler gerade in einem Augenblick allgemeiner Geschäfts¬
stockung zum erstenmale für den Bund in Anspruch genommen werden mußten.
In den kleinen Bundesstaaten stellte man unliebsame Vergleiche zwischen den
Abgabeaquoten von sonst und jetzt an, in den neupreußischen Ländern war
des berechtigten und unberechtigten Murrens über die neuen administrativen


das Maß menschlicher Kräfte wieder auf sein gewöhnliches Niveau zurück¬
gesunken ist. Weder hat es der Süden über sich gewinnen können, aus der
prekairen Lage herauszutreten, in welche er durch die Auflösung des alten
Bundes gerathen war und welche schon am ersten Tage für unhaltbar galt,
noch läßt sich behaupten, daß das Verhältniß des norddeutschen Liberalismus
zu der Siegerin von Königgrätz ein abgeklärtes und feststehendes geworden
sei. Selbst die Franzosen, denen gewaltsame Entschließungen sonst leichter
werden als uns, selbst die Franzosen sind über das Verhältniß, das sie zu
dem neuen Deutschland einnehmen sollen, noch nicht schlüssig geworden. Sie
stehen noch immer mit gekreuzten Armen an der Brücke von Kehl still und
harren der Dinge, die da kommen sollen.

Daß 1866 auf die längere Dauer von Provisorien so unhaltbarer Art
nicht gerechnet worden, ist schon aus der Stimmung erklärlich, welche damals
herrschte. Der Tag, an welchem sich der Umschwung dieser Stimmung voll¬
zog, läßt sich aber noch heute ziemlich genau bestimmen. Es war der
Tag von Luxemburg. Nicht als ob wir ein wirkliches Gewicht auf diesen
Fetzen Landes legten, der dem Particularismus zum stammverwandten erst
geworden, nachdem er von den preußischen Garnisonen geräumt ward. Läug-
nen aber läßt sich nicht, daß Preußens Entschluß, die Pforten des Krieges um
Luxemburgs willen nicht noch einmal zu öffnen, in und außerhalb Deutsch¬
lands von nachhaltigem Einfluß gewesen und mit dem Zeitpunkt der Ernüch¬
terung zusammengetroffen ist, welche der Geschichte des letzten Jahres ihr
specifisches Gepräge aufgedrückt hat. Trotz des Erfolges, den die Freunde
der nationalen Sache beim Schluß des constituirenden Reichstags aufzuweisen
hatten, war die Stimmung schon beim Auseinandergehen desselben von der des
Eröffnungstages gründlich verschieden. Die Ereignisse, welche dann folgten, waren
nicht dazu angethan, die großen Leidenschaften neu anzufachen, welche die Deut¬
schen während des Winters 1866—67 bewegt hatten. Seele Furcht vor neuen
kriegerischen Verwickelungen lähmte Handel und Verkehr, die überdies unter den
Wirkungen einer ziemlich allgemeinen Mißernte zu leiden hatten; in Frankreich
machte die Unzufriedenheit mit der auch in Mexiko gedemüthigten Regierung
so reißende Fortschritte, daß die Beschwichtigung der inneren Gährung durch
einen auswärtigen Krieg mehr wie wahrscheinlich wurde. Dazu kam, daß
die von der Organisation des neuen Bundes und seiner Armee in Anspruch
genommenen Opfer größer waren, als man irgend erwartet hatte, und daß
die Säckel der Steuerzahler gerade in einem Augenblick allgemeiner Geschäfts¬
stockung zum erstenmale für den Bund in Anspruch genommen werden mußten.
In den kleinen Bundesstaaten stellte man unliebsame Vergleiche zwischen den
Abgabeaquoten von sonst und jetzt an, in den neupreußischen Ländern war
des berechtigten und unberechtigten Murrens über die neuen administrativen


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[0012] das Maß menschlicher Kräfte wieder auf sein gewöhnliches Niveau zurück¬ gesunken ist. Weder hat es der Süden über sich gewinnen können, aus der prekairen Lage herauszutreten, in welche er durch die Auflösung des alten Bundes gerathen war und welche schon am ersten Tage für unhaltbar galt, noch läßt sich behaupten, daß das Verhältniß des norddeutschen Liberalismus zu der Siegerin von Königgrätz ein abgeklärtes und feststehendes geworden sei. Selbst die Franzosen, denen gewaltsame Entschließungen sonst leichter werden als uns, selbst die Franzosen sind über das Verhältniß, das sie zu dem neuen Deutschland einnehmen sollen, noch nicht schlüssig geworden. Sie stehen noch immer mit gekreuzten Armen an der Brücke von Kehl still und harren der Dinge, die da kommen sollen. Daß 1866 auf die längere Dauer von Provisorien so unhaltbarer Art nicht gerechnet worden, ist schon aus der Stimmung erklärlich, welche damals herrschte. Der Tag, an welchem sich der Umschwung dieser Stimmung voll¬ zog, läßt sich aber noch heute ziemlich genau bestimmen. Es war der Tag von Luxemburg. Nicht als ob wir ein wirkliches Gewicht auf diesen Fetzen Landes legten, der dem Particularismus zum stammverwandten erst geworden, nachdem er von den preußischen Garnisonen geräumt ward. Läug- nen aber läßt sich nicht, daß Preußens Entschluß, die Pforten des Krieges um Luxemburgs willen nicht noch einmal zu öffnen, in und außerhalb Deutsch¬ lands von nachhaltigem Einfluß gewesen und mit dem Zeitpunkt der Ernüch¬ terung zusammengetroffen ist, welche der Geschichte des letzten Jahres ihr specifisches Gepräge aufgedrückt hat. Trotz des Erfolges, den die Freunde der nationalen Sache beim Schluß des constituirenden Reichstags aufzuweisen hatten, war die Stimmung schon beim Auseinandergehen desselben von der des Eröffnungstages gründlich verschieden. Die Ereignisse, welche dann folgten, waren nicht dazu angethan, die großen Leidenschaften neu anzufachen, welche die Deut¬ schen während des Winters 1866—67 bewegt hatten. Seele Furcht vor neuen kriegerischen Verwickelungen lähmte Handel und Verkehr, die überdies unter den Wirkungen einer ziemlich allgemeinen Mißernte zu leiden hatten; in Frankreich machte die Unzufriedenheit mit der auch in Mexiko gedemüthigten Regierung so reißende Fortschritte, daß die Beschwichtigung der inneren Gährung durch einen auswärtigen Krieg mehr wie wahrscheinlich wurde. Dazu kam, daß die von der Organisation des neuen Bundes und seiner Armee in Anspruch genommenen Opfer größer waren, als man irgend erwartet hatte, und daß die Säckel der Steuerzahler gerade in einem Augenblick allgemeiner Geschäfts¬ stockung zum erstenmale für den Bund in Anspruch genommen werden mußten. In den kleinen Bundesstaaten stellte man unliebsame Vergleiche zwischen den Abgabeaquoten von sonst und jetzt an, in den neupreußischen Ländern war des berechtigten und unberechtigten Murrens über die neuen administrativen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/12>, abgerufen am 30.06.2024.