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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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welchem der Gedanke an eine Vereinigung aller slavischen Stämme seit dem
Sommer v. I. betrieben wird. Der Gedanke, Rußland gleichzeitig als slavisch¬
orthodoxe und als katholische Großmacht ins Treffen zu führen, hat auch für
die orientalische Frage eine Bedeutung; nicht der letzte Grund, aus welchem
unsere Nationalpartei sür die Beseitigung der weltlichen Macht.des Papst¬
thums thätig ist, ist die Rücksicht auf die veränderte Stellung, in welche der
Katholicismus durch den Verlust der Souveränetät seines Oberhauptes ge¬
rathen würde. Sinkt der Papst zu einem östreichischen oder französischen Primas
herab, so kann es Rußland nicht mehr schwer werden, eine selbständige russisch¬
katholische Kirche zu begründen und durch diese auf die katholischen Unter¬
thanen Oestreichs und der Pforte, soweit dieselben Slaven sind, zu wirken.

Kein Theil des türkischen Reichs, selbst Candia nicht, hat die Auf¬
merksamkeit unserer Patrioten neuerdings so lebhaft beschäftigt, wie das
Fürstenthum Serbien, das gegenwärtig den Heerd für slavische Umtriebe
gegen die Pforte bildet. Daß Serbien seit Monaten eifrig rüstet, seine
Armee vervollständigt und Waffen aufkauft, wo es derselben habhaft werden
kann, weiß man bei Ihnen natürlich ebenso gut wie hier. Minder bekannt
dürfte es sein, daß die russische Presse bereits ein feststehendes Programm
für die Politik entworfen hat, welche dieser kleine Staat verfolgen soll, um
an die Spitze aller Unzufriedenen an der unteren Donau und auf der Balkan¬
halbinsel zu treten. Ein Herr Pissarewski hat dieses Programm in einem
Artikel, den ein weit verbreiteter Petersburger Kalender veröffentlichte, aus¬
führlich auseinander gesetzt. Serbien -- so heißt es a. a. O. -- ist von der
Vorsehung dazu bestimmt, das türkische Piemont zu werden; will es seine
Aufgabe würdig lösen, so müssen seine Staatsmänner aufhören, nach Rumä¬
nien hinüberzuschielen, und sich aufrichtig Rußland anschließen. Rußland
würde die Erweiterung dieses jungen Staats ungleich aufrichtiger und selbst¬
loser unterstützen, als Frankreich die Sache Sardiniens unterstützt hat; seine
Grenzen braucht der nordische Großstaat nicht zu erweitern, seine Aufgabe
beschränkt sich darauf, die Unabhängigkeit und Wohlfahrt aller Glaubens und
Stammesgenossen zu unterstützen und an diesen aufrichtige und mächtige Bun¬
desgenossen zu gewinnen. Serbien muß zunächst darauf ausgehen, seine alten
und natürlichen Grenzen wieder zu gewinnen und zu diesem Zweck die alt¬
serbischen Länder und Bosnien annectiren, ein Beginnen, bei welchem es auf
den Schutz Rußlands rechnen kann. Ist das geschehen und auf diese Weise
die Grundlage zu einer südslavischen Vormacht gelegt, so kann es die Fahne
der Freiheit entfalten und siegreich an den Bosporus tragen; an den Sym¬
pathien der übrigen Slaven der Türkei wird es ihm ebenso wenig fehlen,
wie an der russischen Unterstützung, nur -- an einem Cavour!

Die Vermuthung, daß diese Doctrin mehr wie der gelegentliche Einfall


welchem der Gedanke an eine Vereinigung aller slavischen Stämme seit dem
Sommer v. I. betrieben wird. Der Gedanke, Rußland gleichzeitig als slavisch¬
orthodoxe und als katholische Großmacht ins Treffen zu führen, hat auch für
die orientalische Frage eine Bedeutung; nicht der letzte Grund, aus welchem
unsere Nationalpartei sür die Beseitigung der weltlichen Macht.des Papst¬
thums thätig ist, ist die Rücksicht auf die veränderte Stellung, in welche der
Katholicismus durch den Verlust der Souveränetät seines Oberhauptes ge¬
rathen würde. Sinkt der Papst zu einem östreichischen oder französischen Primas
herab, so kann es Rußland nicht mehr schwer werden, eine selbständige russisch¬
katholische Kirche zu begründen und durch diese auf die katholischen Unter¬
thanen Oestreichs und der Pforte, soweit dieselben Slaven sind, zu wirken.

Kein Theil des türkischen Reichs, selbst Candia nicht, hat die Auf¬
merksamkeit unserer Patrioten neuerdings so lebhaft beschäftigt, wie das
Fürstenthum Serbien, das gegenwärtig den Heerd für slavische Umtriebe
gegen die Pforte bildet. Daß Serbien seit Monaten eifrig rüstet, seine
Armee vervollständigt und Waffen aufkauft, wo es derselben habhaft werden
kann, weiß man bei Ihnen natürlich ebenso gut wie hier. Minder bekannt
dürfte es sein, daß die russische Presse bereits ein feststehendes Programm
für die Politik entworfen hat, welche dieser kleine Staat verfolgen soll, um
an die Spitze aller Unzufriedenen an der unteren Donau und auf der Balkan¬
halbinsel zu treten. Ein Herr Pissarewski hat dieses Programm in einem
Artikel, den ein weit verbreiteter Petersburger Kalender veröffentlichte, aus¬
führlich auseinander gesetzt. Serbien — so heißt es a. a. O. — ist von der
Vorsehung dazu bestimmt, das türkische Piemont zu werden; will es seine
Aufgabe würdig lösen, so müssen seine Staatsmänner aufhören, nach Rumä¬
nien hinüberzuschielen, und sich aufrichtig Rußland anschließen. Rußland
würde die Erweiterung dieses jungen Staats ungleich aufrichtiger und selbst¬
loser unterstützen, als Frankreich die Sache Sardiniens unterstützt hat; seine
Grenzen braucht der nordische Großstaat nicht zu erweitern, seine Aufgabe
beschränkt sich darauf, die Unabhängigkeit und Wohlfahrt aller Glaubens und
Stammesgenossen zu unterstützen und an diesen aufrichtige und mächtige Bun¬
desgenossen zu gewinnen. Serbien muß zunächst darauf ausgehen, seine alten
und natürlichen Grenzen wieder zu gewinnen und zu diesem Zweck die alt¬
serbischen Länder und Bosnien annectiren, ein Beginnen, bei welchem es auf
den Schutz Rußlands rechnen kann. Ist das geschehen und auf diese Weise
die Grundlage zu einer südslavischen Vormacht gelegt, so kann es die Fahne
der Freiheit entfalten und siegreich an den Bosporus tragen; an den Sym¬
pathien der übrigen Slaven der Türkei wird es ihm ebenso wenig fehlen,
wie an der russischen Unterstützung, nur — an einem Cavour!

Die Vermuthung, daß diese Doctrin mehr wie der gelegentliche Einfall


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[0082] welchem der Gedanke an eine Vereinigung aller slavischen Stämme seit dem Sommer v. I. betrieben wird. Der Gedanke, Rußland gleichzeitig als slavisch¬ orthodoxe und als katholische Großmacht ins Treffen zu führen, hat auch für die orientalische Frage eine Bedeutung; nicht der letzte Grund, aus welchem unsere Nationalpartei sür die Beseitigung der weltlichen Macht.des Papst¬ thums thätig ist, ist die Rücksicht auf die veränderte Stellung, in welche der Katholicismus durch den Verlust der Souveränetät seines Oberhauptes ge¬ rathen würde. Sinkt der Papst zu einem östreichischen oder französischen Primas herab, so kann es Rußland nicht mehr schwer werden, eine selbständige russisch¬ katholische Kirche zu begründen und durch diese auf die katholischen Unter¬ thanen Oestreichs und der Pforte, soweit dieselben Slaven sind, zu wirken. Kein Theil des türkischen Reichs, selbst Candia nicht, hat die Auf¬ merksamkeit unserer Patrioten neuerdings so lebhaft beschäftigt, wie das Fürstenthum Serbien, das gegenwärtig den Heerd für slavische Umtriebe gegen die Pforte bildet. Daß Serbien seit Monaten eifrig rüstet, seine Armee vervollständigt und Waffen aufkauft, wo es derselben habhaft werden kann, weiß man bei Ihnen natürlich ebenso gut wie hier. Minder bekannt dürfte es sein, daß die russische Presse bereits ein feststehendes Programm für die Politik entworfen hat, welche dieser kleine Staat verfolgen soll, um an die Spitze aller Unzufriedenen an der unteren Donau und auf der Balkan¬ halbinsel zu treten. Ein Herr Pissarewski hat dieses Programm in einem Artikel, den ein weit verbreiteter Petersburger Kalender veröffentlichte, aus¬ führlich auseinander gesetzt. Serbien — so heißt es a. a. O. — ist von der Vorsehung dazu bestimmt, das türkische Piemont zu werden; will es seine Aufgabe würdig lösen, so müssen seine Staatsmänner aufhören, nach Rumä¬ nien hinüberzuschielen, und sich aufrichtig Rußland anschließen. Rußland würde die Erweiterung dieses jungen Staats ungleich aufrichtiger und selbst¬ loser unterstützen, als Frankreich die Sache Sardiniens unterstützt hat; seine Grenzen braucht der nordische Großstaat nicht zu erweitern, seine Aufgabe beschränkt sich darauf, die Unabhängigkeit und Wohlfahrt aller Glaubens und Stammesgenossen zu unterstützen und an diesen aufrichtige und mächtige Bun¬ desgenossen zu gewinnen. Serbien muß zunächst darauf ausgehen, seine alten und natürlichen Grenzen wieder zu gewinnen und zu diesem Zweck die alt¬ serbischen Länder und Bosnien annectiren, ein Beginnen, bei welchem es auf den Schutz Rußlands rechnen kann. Ist das geschehen und auf diese Weise die Grundlage zu einer südslavischen Vormacht gelegt, so kann es die Fahne der Freiheit entfalten und siegreich an den Bosporus tragen; an den Sym¬ pathien der übrigen Slaven der Türkei wird es ihm ebenso wenig fehlen, wie an der russischen Unterstützung, nur — an einem Cavour! Die Vermuthung, daß diese Doctrin mehr wie der gelegentliche Einfall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/82>, abgerufen am 25.08.2024.